Geistesblitze (Teil 2)

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Es ist immer wieder interessant, historisch interessante Persönlichkeiten als Sommerlektüre für die Tageblatt-Leserschaft in Erinnerung zu rufen, wie eben Georg Christoph Lichtenberg. Und um ihm für einmal zu widersprechen: „Wie werden einmal unsere Namen hinter den Erfindern des Fliegens und dergleichen vergessen werden“ (Sudelbuch D 525). Mitnichten, Herr Lichtenberg …

In den Zeiten von Renaissance und Aufklärung etablierten Forscher, Erfinder und Entdecker mit ihren auf empirischen Erfahrungen und Forschungen basierenden Erkenntnissen die Wissenschaftsdisziplinen. In der Wahrnehmung des von philosophischen Kontroversen wie auch von Umbrüchen in den politischen Verhältnissen geprägten Zeitgeschehens formte Lichtenberg sein Denken und seine Gedanken, über sich selbst und über bedeutende Persönlichkeiten wie z.B. Nikolaus Kopernikus und James Cook. Die oben zitierte, von Lichtenberg 1774 getroffene Aussage kann allerdings, was ihn selber betrifft, ohne Anstrengung als widerlegt angesehen werden. Denn vergessen ist er absolut nicht. Und seine Aphorismen sind immer noch aktuell. Immer gern gelesen, wie der Autor dieser Zeilen, der schon als Schüler auf diese schillernde Figur aufgrund eines Romans mit dem bezeichnenden Titel „Der Gnom“ aufmerksam wurde, nur bestätigen kann.

„Der Mann hatte so viel Verstand, dass er fast zu nichts mehr in der Welt zu gebrauchen war.“ Dieser Ausspruch Lichtenbergs, für wen auch immer gemeint, trifft auf ihn selbst, den genialen Denker und Aphoristiker, garantiert nicht zu. „Lichtenberg. Ein verkleinertes Bild seines Gedankenlebens“ ist eine Auswahl aus seinen bestbekannten „Sudelbüchern“, vorgenommen von dem österreichischen Schriftsteller, Theaterkritiker und Kulturphilosophen Egon Friedell, der über Lichtenberg sagt: „Lichtenberg hat das Zeitlose aller vollkommen freien Geister. Sein Mangel an jeglicher Einseitigkeit, Pedanterie und Trockenheit macht ihn für jedermann zugänglich.“

Zum Terminus „Sudelbuch“ und diesen Begriff ergänzend sei noch Folgendes präzisiert: Wie erwähnt schrieb Lichtenberg seine Gedanken in Hefte, die er mit Buchstaben versah, von A bis L. Heft F nannte er ironisch eben „Sudelbuch“, weil darin viel durchgestrichen und überschrieben ist. Der Begriff hat sich, so eine rezente Sendung des SWR2 zum 275. Geburtstag des unvergessenen Georg Christoph Lichtenberg, dem „Meister der Gedankenblitze“ – so übrigens der Titel des höchst interessanten Beitrags – später für alle Hefte eingebürgert. Man hat, so Ulrich Joost von der Göttinger Lichtenberg-Gesellschaft kürzlich und im Rahmen der erwähnten Radio-Sendung am 1. Juli dieses Jahres, ungefähr 1.300 heutige Buchdruck-Seiten dieser „Sudelbücher“ Lichtenbergs noch erhalten, und heute würden noch schätzungsweise ein Drittel fehlen. Man geht folglich von 2.000 Buchseiten richtig „gedachter“ Notizen aus, so der deutsche Germanist und Lichtenberg-Experte wörtlich. Eine Mischung aus Scharfsicht, Spott, Ironie (auch Selbstironie), Melancholie und Humanität – absolut einmalig in der deutschsprachigen Philosophie.

In ganz Europa bekannt und geschätzt

Doch Lichtenberg wollte ausdrücklich nicht, dass diese Notate zu seinen Lebzeiten publiziert wurden. So geschah dies auch erst nach seinem Tod in Göttingen, wo er am 24. Februar 1799 mit 57 Jahren starb. Eine Lungenentzündung hatte ihn innerhalb weniger Tage einfach weggerafft, wie überliefert wird. Und, pikanterweise noch ein Zitat, dem widersprochen werden muss: „Ein Grab ist doch immer die beste Befestigung wider die Stürme des Schicksals.“ In seinem persönlichen Fall allerdings leider nicht, denn da hat der kluge Mann sich geirrt: Man öffnete seine Grabstätte auf dem Bartholomäus-Friedhof in Göttingen und Lichtenbergs Grab war … leer! Niemand weiß genau, was passiert ist und wo die „sterblichen Reste“ Lichtenbergs tatsächlich zu finden sind …

Von Kant hat Goethe gesagt, wenn er ihn lese, so sei ihm zumute, „als trete er in ein helles Zimmer“. Auf wenige deutsche Schriftsteller könnte dieses Bild mit ebensolcher Berechtigung angewendet werden wie eben auf Georg Christoph Lichtenberg. Nur besitzt dieses Zimmer noch allerlei Winkel, Erker und Gänge, die in die absonderlichsten Polterkammern führen, wie Friedell es ausdrückt.

Denn er schrieb so manches neben seinen „Sudelbüchern“, wie er seine Schriften in aphoristischer Form verfasst, selbst bezeichnete, in denen er Gedankensplitter, eben Geistesblitze im Sinne dieser Zeilen – Einfälle, Lesefrüchte, Reflexionen zu fast allen Wissensgebieten und, natürlich, naturwissenschaftliche Feststellungen – notierte, die erst posthum, seinem ausdrücklichen Wunsch entsprechend, veröffentlicht wurden. Für Philologen und Historiker sind allerdings seine Streitschriften, Briefe und Essays durchaus gleichberechtigt anzusiedeln. Diese schrieb er auf Deutsch, seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen vorzugsweise in Latein. Er war begeistert von England, das er mehrmals bereiste, und schrieb in seinen „Briefen aus England“ als Theaterkritiker wertvolle Beiträge vor allem zur Geschichte des englischen Theaters und die ersten deutschsprachigen Beschreibungen einer werdenden Großstadt.

Dieser vielseitige Mann war in Fachkreisen in ganz Deutschland und Europa bekannt und geschätzt. Er stand mit vielen Gelehrten im Briefwechsel und war Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Gesellschaften, wie (selbstverständlich) in Göttingen, St. Petersburg und London. Auch Goethe suchte Lichtenberg auf und bat ihn um dessen Meinung zu seiner Farbenlehre und hoffte – allerdings vergeblich – auf dessen Anerkennung. Zu seinen Ehren verleiht die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen alljährlich die Lichtenberg-Medaille und die Technische Universität Darmstadt hat eines seiner Gasthäuser nach ihm benannt, so wie in ganz Deutschland mehrere Schulen seinen Namen tragen.

Der bestbekannte Hamburger Zeichner Horst Janssen hat zum Teil ironisch-sarkastische Aphorismen Lichtenbergs visuell thematisiert und sie als Statement und Bildbeschriftungen in seine Zeichnungen und Radierungen integriert, Hans Magnus Enzensberger an einem Film über das Leben Lichtenbergs gearbeitet. Kurt Tucholsky zeigte seine Verehrung Lichtenbergs durch häufiges Zitieren.

Ach ja, wohlwissend, im Sinne dieses kleinen Mannes, ganz groß: „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird wenn es anders wird, aber so viel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll!“ In dem Sinne bestätigt, Herr Lichtenberg, ist dem heuer immer noch, doch es sei Ihnen ausdrücklich zugesichert: Wir arbeiten dran!

Frank Bertemes