Die Zähmung des Technologie-Monsters (Teil 1)

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Als Facebooks CEO Mark Zuckerberg im Mai vor dem Europäischen Parlament auftrat, prahlte er, dass sein Unternehmen Zehntausende von Moderatoren bezahle, um beleidigende Facebook-Beiträge zu prüfen, zu untersuchen und ggf. zu löschen. Diese sogenannten „Cleaner“, die von Outsourcing-Firmen in Indien und anderswo gestellt werden, sind anscheinend die heimliche Macht, die darüber bestimmt, was auf der Plattform erscheinen darf und was nicht.

Von Guy Verhofstadt

Zum Autor

Guys Verhofstadt ist ehemaliger belgischer Ministerpräsident. Er ist Fraktionsvorsitzender der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2018.
www.project-syndicate.org

Zuckerberg offerierte diese Informationen in der Hoffnung, uns zu beruhigen, doch seine Aussage hatte den gegenteiligen Effekt. Die Vorstellung, dass multinationale Unternehmen wie Facebook nun darüber entscheiden, was die Menschen online zu sehen bekommen, ist sowohl grotesk als auch gefährlich. Eine derartige Privatisierung unserer bürgerlichen Freiheiten ist ohne Beispiel. Die katholische Kirche mag während des Mittelalters eine nahezu absolute Macht über die Verfügbarkeit von Informationen ausgeübt haben, aber zumindest erkannten ihre Anhänger sie als moralische Autorität an. Zuckerberg ist nichts dergleichen.

Aufgrund von Facebook – und den sozialen Medien im Allgemeinen – hat sich das Tempo, mit dem Nachrichten zirkulieren, immer stärker beschleunigt, und doch wurde der freie und unparteiische Zugriff darauf zunehmend abgeschwächt. Wenn Sie zu einem Zeitungskiosk am Straßenrand gehen, finden Sie dort „linke“ Satiremagazine wie Private Eye und Charlie Hebdo neben „kapitalistischen“ Veröffentlichungen wie dem Wall Street Journal und der Financial Times. Aber wenn Sie sich Ihren Facebook-Newsfeed anschauen, sehen Sie dort fast nur Geschichten, die Ihre eigenen politischen Ansichten verstärken.

Natürlich behauptet Zuckerberg, dass Facebook „externe Faktenchecker“ beschäftige, die „vermutlich falsche Nachrichten“ ermitteln und die „die Story ergänzen und den Leuten weitere (ähnliche) Inhalte (aus anderen Nachrichtenquellen) zeigen“ können. Doch man fragt sich, wer diese Faktenchecker sind, welche Kriterien sie zur Ermittlung des Wahrheitsgehalts einer Story anlegen und was für Algorithmen sie verwenden, um alternative Nachrichtenquellen auszuwählen.

Kodierte Dystopie

Die Welt, die Zuckerberg geschaffen hat, nimmt sich zunehmend wie eine Kombination aus George Orwells „1984“ und Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ aus. In „1984“ steuert eine zentrale Behörde den öffentlichen Diskurs innerhalb eines totalitären Systems; in der heutigen digitalen Welt wird er durch ein einziges Unternehmen mit einem Beinahe-Monopol über die Online-Verbreitung von Nachrichten gesteuert. Natürlich würde Zuckerberg sagen, dass es Alternativen gibt, wie etwa Google und Twitter; aber das ist so, als würde uns ein eine Monopolstellung innehabender Autohersteller erzählen, wir könnten jederzeit auf den Bus warten oder zu Fuß gehen.

In ähnlicher Weise bestimmen in „Schöne neue Welt“ Wissenschaft und Technologie das Denken und Verhalten der Menschen und nicht die Menschen das Verhalten von Wissenschaft und Technologie. Und wie Jamie Bartlett (Demos) in seinem Buch „The People Vs Tech“ gezeigt hat, steht die digitale Quantifizierung unseres täglichen Lebens im direkten Widerspruch zur Funktionsweise der Demokratie. In einer Welt, in der Algorithmen alle Ergebnisse bestimmen, existiert keine Politik mehr.

Doch reicht dieses Problem über Facebook hinaus. Alle großen Firmen im Silicon Valley – darunter Alphabet Inc. (die Muttergesellschaft von Google), Apple und Amazon – verfolgen Geschäftsmodelle, die das Potenzial haben, die Demokratie zu untergraben, und damit einhergehend auch die Privatsphäre. Das Horten personenbezogener Daten zu dem Zweck, zielgerichtete Werbeanzeigen zu verkaufen, macht die Wähler der Demokratien zunehmend anfällig für populistische und demagogische Manipulation.

Räuberbarone

Der einzige Weg, diesen verstörenden Trend zu stoppen, besteht darin, dass Internet selbst zu revolutionieren, indem man es den normalen Nutzern – soll heißen: den Bürgern – zurückgibt. Eine Option besteht laut dem Journalisten Nick Davies darin, Giganten wie Google und Facebook zu verstaatlichen. Aber diese Heilmethode wäre schlimmer als die ursprüngliche Krankheit. In Ländern wie China und der Türkei, in denen die sozialen Medien eng vom Staat kontrolliert werden, gibt es sogar noch mehr Desinformation und Zensur als unter den privaten Monopolen. Zudem ist ein einziger großer staatlicher Social-Media-Gigant das Letzte, was wir brauchen. Im Gegenteil: Wir brauchen mehr Wettbewerb, sodass die Bürger mehr Auswahl haben, wo und zu welchen Bedingungen sie ihre Daten speichern.

Historisch betrachtet war es zur Lösung von Problemen in einer Marktwirtschaft immer ein gutes Rezept, einen fairen und gesunden Wettbewerb sicherzustellen. Im Jahre 1900 war John D. Rockefellers Standard Oil Company zum Torhüter des Energiemarktes in den USA geworden, was für die Verbraucher und die Branche gleichermaßen schlecht war. Daher zwang die US-Regierung das Unternehmen 1911, sich in 34 „Baby Standards“ aufzuspalten. Einige dieser Nachfolgeunternehmen von Standard Oil, wie Chevron und ExxonMobil, bestehen noch heute.

Die Aufspaltung von Standard Oil bereitete den Boden für ähnliche Kartellverfahren gegen IBM, Kodak, Microsoft, Alcoa und andere Monopole im gesamten Verlauf des 20. Jahrhunderts. Im Jahr 1982 wurde AT&T gezwungen, seine Kontrolle über das Bell-System lokaler Telefonbetreiber überall in den USA und Kanada abzugeben und das Bell-System selbst wurde in zahlreiche „Baby Bells“ aufgespalten. Wir verdanken einen Großteil der heutigen Technologierevolution diesem weitreichenden Akt staatlicher Regulierung.
Anders ausgedrückt: Es gibt historisch gesehen keinen Grund zu der Annahme, dass eine Aufspaltung der digitalen Giganten für die Wirtschaft schlecht wäre. Möglicherweise könnte sie sogar eine neue Welle der Innovation auslösen. Warum also gibt es keine Dynamik hin zu jener Art von verhältnismäßigem staatlichen Handeln, das wir auf den Öl- und Telekommunikationsmärkten erlebt haben?

Die Nutzer als Produkt

Es scheint seitens der Amerikaner kaum Interesse daran zu bestehen, eine enorm erfolgreiche inländische Branche durcheinanderzubringen; und den Europäern fehlen dazu die Mittel. Zudem wurde das Kartellrecht in den USA und Europa für die analogen Branchen des 20. Jahrhunderts geschaffen und nicht für die digitale Wirtschaft des 21. Jahrhunderts.

In den USA wurden die bestimmenden Kartellrichtlinien in den 1970er und 1980er Jahren von Persönlichkeiten wie dem konservativen Juristen Robert Bork und dem Ökonomen Aaron Director von der Universität Chicago geschaffen. Bork und Director argumentierten, dass die wirtschaftliche Effizienz, und nicht die Größe oder Marktstellung eines Unternehmens, das vorrangige Ziel des Kartellrechts sein sollte. Gemäß dieser Argumentation sind Kartellmaßnahmen ungerechtfertigt, wenn ein Monopol oder Beinahe-Monopol die Verbraucher nicht mit höheren Preisen auspresst.

Dieser Grundsatz verschafft Facebook, Google und Amazon, die den Verbrauchern jeweils enorme Vorteile bieten, heute Deckung. Das Problem ist, dass, weil das „Kerngeschäft“ dieser Technologie-Giganten die Nutzer tendenziell als Produkt und nicht Kunden behandelt, sie enorme Mengen personenbezogener Daten erworben haben. Daher ist die Art der Dienstleistungen, die diese Unternehmen anbieten, weitgehend irrelevant neben dem realen Problem, was hier vorliegt: der Konzentration der Kontrolle über personenbezogene Informationen.