Der neue Relativismus: Zur Rettung des intellektuellen Klimas

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„Wenn eine homosexuelle Person etwas als homofeindlich empfindet, dann ist es das auch.“ Dieser mehr als problematische Satz war kürzlich in einer Wochenzeitung zu lesen (Tessie Jacobs in der Woxx-Ausgabe vom 14. Juni, S. 7). Problematisch ist der Satz, weil er von einer privaten Empfindung, also von einem bloßen Erscheinen, auf ein Sein schließt, also auf das Bestehen eines Sachverhaltes, einer Tatsache.

Wie einst der griechische Philosoph Protagoras meinte, der Mensch sei das Maß aller Dinge, könnte die Autorin der zitierten Behauptung sagen, die homosexuelle Person sei das Maß für den homophoben Charakter einer Aussage. Und gemeint ist hier die individuelle homosexuelle Person, so dass also ein einziges Individuum zum Maß des Seins erhoben wird. Und noch mehr: Die Autorin bezieht sich lediglich auf das Empfinden der Person, nicht auf ihr Denken. Wir bewegen uns also auf dem Boden des rein Gefühlsmäßigen, des rein Subjektiven.

Es genügt, dass irgendeine homosexuelle Person – die nicht weiter qualifiziert wird – etwas als homofeindlich empfindet, damit dies dann auch als homofeindlich gilt. Wenn demnach irgendeine homosexuelle Person die Aussage „Bei der Ausweitung der künstlichen Befruchtung auf homosexuelle Paare stellen sich spezifische ethische Fragen“ als homofeindlich empfindet, dann ist diese Aussage auch homofeindlich. Insofern die Homophobie zum Gegenstand einer gerichtlichen Prozedur mit Verurteilung werden kann, ist es mehr als nur eine akademische Übung, auf die Gefahren hinzuweisen, die der neue Relativismus mit sich bringt. Was man nämlich bedenken muss, ist, dass fortan die Richter sich der Empfindung der homosexuellen Person beugen müssen, da es diese Empfindung ist, die die Wirklichkeit bestimmt. Man wird demnach auf einen kontradiktorischen Prozess verzichten können, denn die homosexuelle Person ist hier die einzige Person, deren Urteil der Wirklichkeit entspricht.

Die homosexuelle Person ist genauso unfehlbar wie der Papst: Hat die homosexuelle Person erst mal gesagt, dass sie eine bestimmte Aussage als homofeindlich empfindet, dann ist die causa finita, d.h. dann erübrigt sich jede weitere rationale Diskussion. Wer eine solche Diskussion führen will, macht sich der Homophobie schuldig, da es sicherlich mindestens eine homosexuelle Person gibt, die meint, es sei homophob, die Wahrheit der Aussage einer homosexuellen Person in Frage zu stellen. Mit ihrer am Anfang dieses Beitrags zitierten Aussage zieht die Autorin also jeder rationalen Diskussion über den homofeindlichen Charakter einer Behauptung den Boden unter den Füßen weg, macht sie jeden Dialog unmöglich und unterwirft damit die öffentliche Sphäre der Tyrannei der individuellen Empfindungen.

Ob eine Behauptung homofeindlich ist oder nicht, hängt von sehr vielen Faktoren ab, und nicht nur vom Empfinden einer homosexuellen Person – so viel Ahnung von Sprachphilosophie sollte auch eine Journalistin haben. Nur die Wirkung der Aussage zu berücksichtigen, um ihren Charakter zu bestimmen, zeugt von einer – leicht behebbaren – Unkenntnis des Funktionierens der Sprache oder von einer – leider schwer zu überkommenden – ideologischen Verblendung. Die Gründe und Absichten des Sprechers, der Kontext, usw. müssen berücksichtigt werden und ihnen müssen zumindest dasselbe Gewicht zugesprochen werden, wie den subjektiven Empfindungen des Adressaten.

Dieser neue Relativismus, der die Form eines absoluten Individualismus annimmt, ist ein Charakteristikum der LGTBQI-Bewegung. Aus einem ganz legitimen Anliegen – dem Verlangen nach Respekt und Verständnis gegenüber Menschen mit einer anderen sexuellen Ausrichtung oder deren empfundenes Geschlecht nicht mit ihrem anatomischen Geschlecht übereinstimmte – wurde eine Ideologie, die sich an den Heiligen Schriften von Michel Foucault, Judith Butler usw. orientiert und deren Inhalt dogmatisiert.

Auch wenn diese Autoren sicherlich recht haben, uns darauf hinzuweisen, dass vieles sozial konstruiert ist und dementsprechend die Züge des Sozialen und der sich in diesem Sozialen manifestierenden Machtverhältnisse trägt, so schießen sie doch weit über ihr Ziel hinaus, wenn sie die Natur ganz vergessen und den Menschen so konzipieren, als sei er absolut frei, alles zu wollen und alles zu tun, was ihm gerade durch den Kopf geht. Denn indem diese Autoren auch die Vernunft radikal hinterfragen und auch in ihr ein bloßes sozial konstruiertes Machtinstrument sehen, bleiben ihnen letztendlich nur die individuellen Begierden und Empfindungen als Fundament übrig. Und so wird dann aus dem zivilisierten Menschen wieder der natürliche Mensch – und das im Rahmen einer Theorie, die sich gerade von der Natur emanzipieren wollte. Aber der Widerspruch ist nur oberflächlich: Man emanzipiert sich von einer Natur, die den Menschen daran erinnert, dass er nicht allmächtig ist, und identifiziert sich mit einer Natur, die keine Grenzen kennt. Sigmund Freud hätte von einer Rückkehr zur Allmacht des ES gesprochen. Über-Ich und Ich, also die Instanzen, die allein in der Lage sind, eine allgemeinverbindliche Objektivität herzustellen, wurden verabschiedet. Wir scheinen endgültig in die Ära der subjektiven Beliebigkeit übergegangen zu sein, und das in einem Zeitalter, wo es mehr denn je nötig ist, den Individualismus zu überwinden.

Was wir heute brauchen, ist kein neuer Max Stirner, der nur das Einzige und sein Eigentum kennt, sondern wir benötigen eine Theorie, die die in der Vormoderne und der Moderne enthaltenen Elemente einer wirklich humanen Form der Gesellschaft verbindet. Nicht nur das meteorologische Klima ist heute gefährdet, sondern auch das intellektuelle. Und um Ersteres zu retten, müssten wir uns vielleicht zunächst um Letzteres kümmern. Aber für die Rettung des intellektuellen Klimas kriegt man die Jugend nicht mobilisiert – von den Politikern nicht zu sprechen.

Von Norbert Campagna, „professeur-associé“ an der Université du Luxembourg. Er unterrichtet zudem am LGE und am LCE.

de Koschter
7. August 2019 - 15.42

Komische Menschen und Gedanken, @ Norbert Campagna, hat es noch immer gegeben. Besonders in der katholischen Kirche. Stimme Ihnen absolut zu, dass die Ausdrucksfreiheit heute genauso in Gefahr ist, wie sie das unter der Inquisition war. Vor nicht allzu langer Zeit war Homosexualität noch strafbar. Das ist Gott sei Dank nicht mehr der Fall, aber das ist nicht der Verdienst der Kirche, die heute von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Allzu straff gespannt zerspringt der Bogen! Die Institution Kirche hat total versagt. Statt zu überzeugen hat sie immer nur gedroht . Wer Angst und Hass predigt, wird Sturm ernten. Die heutigen Theologen und Priester, die guten Willens sind, haben es schwer, weil das Vertrauen und der Glaube in die Kirche von dieser aufs Schändlichste missbraucht worden sind.

titi
7. August 2019 - 15.25

Was muss man eigentlich unter tiefkatholischer Philosophie verstehen? " Philosophie= Streben nach Erkenntnis über den Sinn des Lebens, das Wesen der Welt und die Stellung des Menschen in der Welt " ( frei nach Duden )." Katholisch sein, bedeutet hingegen sich zu derjenigen christlichen Kirche und ihrem Glauben zu bekennen, die beansprucht, alleinseligmachend zu sein und die das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes , ihres als Stellvertreter Christi eingesetzten Oberhauptes, vertritt. "( Duden ) Demnach hat katholisch nichts mit Philosophie zu tun oder umgekehrt. Kein Philosoph behauptet von sich, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein.

Norbert Campagna
23. Juli 2019 - 16.30

Einem nicht-gläubigen, von Marx ausgehenden und sich in die Linie von Habermas stellenden Autor eine tiefkatholische Philosophie vorzuwerfen, ist schon komisch. Aber in der heutigen Welt trifft man halt eben auf komische Menschen und Gedanken. Was wollte ich beweisen? Dass heute die Ausdrucksfreiheit in Gefahr ist. Ich selbst bin der tiefen überzeugung, dass Homosexualität ein legitimer Ausdruck der Sexualität ist und dass jeder das Recht haben sollte, in einer homosexuellen Beziehung zu leben. So was passt natürlich nicht zum Katholizismus, den man mir vorwirft. Was mich stört, ist der Wille, jede Kritik an der Homosexualität als homophob darzustellen. Die Gender-Ideologie ist heute eine der grössten Gefahren für jede Form von Humanismus, und deshalb soll er, argumentativ natürlich, bekämpft werden. Norbert Campagna

J.C.KEMP
22. Juli 2019 - 16.58

Mich stört besonders die tiefkatholische Fülosofü des Beitrags.

GuyT
22. Juli 2019 - 10.02

Sehr guter, tiefgehender Kommentar. Für verschieden Leser vielleicht über Niveau.

J.C.KEMP
21. Juli 2019 - 17.51

Was will der Autor uns erklären, resp. beweisen?