Offene Fragen

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Erdogan schaufelt sich sein eigenes Grab.

Nach über einer Woche bleiben mehr Fragen als Antworten: Der Putschversuch in der Türkei wird wahrscheinlich nie vollständig aufgeklärt. Umso erschreckender ist der Blick auf die offenen Fragen. Warum war der Coup derart miserabel organisiert? Wie weit reichte die von der Regierung Erdogan vermutete Verschwörung innerhalb der Armee? Hatte die Regierung selbst die Finger im Spiel? Wieso haben die Putschisten ausgerechnet freitagnachts um 22.00 Uhr, als die Straßen noch belebt waren, angegriffen? Waren es säkulare Kräfte oder Islamisten der Gülen-Bewegung? Warum gelang ihnen das Attentat auf Erdogan in seiner Ferienanlage nicht? Und weshalb haben sie die Kontrolle über den Rundfunk nur begrenzt an sich gerissen? Man kann all diese Fragen als Schnee von gestern abtun.

Erdogan instrumentalisiert den Putschversuch nun ohnehin, um seine politischen Gegner in vielen staatlichen Bereichen aus dem Weg zu schaffen. Bislang sollen rund 60.000 Menschen in irgendeiner Form – berechtigt oder unberechtigt, ist noch unklar – im Zuge des Coup-Versuchs Opfer staatlicher Repression geworden sein.

Dass mittlerweile der Ausnahmezustand im Land verhängt wurde, gibt Erdogan noch mehr Macht. Allerdings verstößt jegliches Vorgehen gegen irgendeinen türkischen Bürger gegen rechtsstaatliche Prinzipien, solange nicht geklärt ist, wer hinter dem Putschversuch steckt und welche Motive die Strippenzieher bewegt haben. Für Erdogan und seine Regierung hat sich diese Frage jedoch längst erledigt: Die Gülenisten stecken hinter allem. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Gülen-Bewegung ein fragwürdiges Verhalten an den Tag gelegt hat und durch intransparente Strukturen charakterisiert ist. Umso mehr verwundert es, wie lange Erdogans Zweckehe mit den Gülenisten anhielt. Seit dem Bruch im Jahr 2013 hat sich das Verhältnis zwischen AKP und Fethullah Gülens Leuten jedoch drastisch verschlechtert. Zuletzt gingen Staatsanwälte mit gülenistischen Wurzeln gegen Erdogan-Leute vor. Die türkische Regierung reagierte drastisch: Sie stufte Anfang Juni die Gülen-Bewegung als Terrorgruppe ein.

Für einige Beobachter ist dies eines der möglichen Motive: Die Gülenisten fühlten sich in die Ecke gedrängt und wollten mit dem Coup ihren Niedergang verhindern. Eine andere Lesart deutet darauf hin, dass die Bewegung als Terrororganisation eingestuft wurde, nachdem Gülenisten korrupten Machenschaften des Erdogan-Clans nachgegangen sind. Seit diesem Zeitpunkt soll ihnen der Aufbau von parallelen Staatsstrukturen vorgeworfen worden sein. Diese völlig unterschiedlichen Blickwinkel verdeutlichen, dass die Justiz – selbst wenn sie unabhängig ist – keine ernsthafte Beurteilungsgrundlage bei ihren Untersuchungen und Prozessen haben kann.

Somit wird Erdogan die nächsten Monate wenig bis nichts daran hindern, seine „Säuberungen“ fortzuführen. Und auch hier verfolgt er eine brandgefährliche Taktik, die nicht nur seinen Kopf kosten, sondern die Türkei noch stärker destabilisieren könnte. Wer derart viele Menschen suspendiert und festnimmt, macht sich viele Feinde. Außerdem hat das Beispiel Irak gezeigt, was passiert, wenn man eine ganze Kaste aus dem Staatswesen entfernt und vor die Tür setzt. Aus den von den USA entlassenen Baath-Leuten, die einst Saddam Hussein dienten, wurden später die führenden Köpfe der Terrormiliz Islamischer Staat. Der Kurdenkonflikt zerreißt das Land bereits seit langem. Der Gülenisten-Konflikt hat das fatale Potenzial, die innere Ordnung der Türkei auf Dauer komplett zu sprengen.