Mit der Mistgabel: Sozialer Abstieg und die Jacquerie der Gelbwesten

Mit der Mistgabel: Sozialer Abstieg und die Jacquerie der Gelbwesten

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Frankreich ist weitaus dünner besiedelt als Deutschland oder die südliche Hälfte Luxemburgs. Paris, Lyon und Marseille sind nicht repräsentativ für das Hexagon als Ganzes: Relativ viele Menschen leben abseits großstädtischer Räume auf dem „flachen“ Land. Wer dort über kein Auto verfügt, der merkt schnell, dass er nicht nur an einer ländlichen Idylle teilhat, sondern vor allem am Allerwertesten der Welt lebt.

In den Marktflecken und Kleinstädten in der Provinz stirbt zudem der lokale Handel zusehends aus. Wer einkaufen will, muss in eine der potthässlichen Gewerbezonen fahren, die außerhalb der Zentren an den Ortseingängen liegen. Was für Menschen, die über keinen fahrbaren Untersatz verfügen, einen spürbaren Verlust an Lebensqualität bedeutet. Denn die Qualität des öffentlichen Transportes ist in diesen Gegenden keineswegs ausreichend, um eine Alternative zum motorisierten Individualverkehr darstellen zu können.

Gerade der Schienenverkehr in der Provinz leidet unter jahrzehntelanger Vernachlässigung, die eine direkte Konsequenz einer Politik des „tout TGV“ ist. Auf dem Land ist in Frankreich aber auch die soziale Prekarität weit verbreitet: Menschen, die es gerade noch so fertigbringen, einen klapprigen Kleinwagen zu halten, sind nur allzu oft nicht in der Lage, regelmäßig vollzutanken. Und ein leerer Tank bedeutet unter anderem Scherereien im Berufsleben sowie soziale Isolation.

Das Problem hoher Spritpreise ist für viele Franzosen also durchaus sehr ernst. Trotzdem muss man sich fragen, ob die Bewegung der „Gilets jaunes“ – eine typisch französische Jacquerie – eine sinnvolle Antwort darauf ist. Die gegenwärtige Situation ist eine Konsequenz einer rücksichtslosen Politik des „tout automobile“, die seit den Sechzigerjahren den Menschen vorspiegelte, dass das Automobil – das durchaus auch seine Vorzüge hat – die Ankunft paradiesischer Zustände im Allgemeinen sowie die Befriedigung sämtlicher Mobilitätsbedürfnisse im Besonderen mit sich bringen würde.

Wie wir längst wissen, führte diese Politik aber schnurstracks in eine Sackgasse: Das Auto wird sich in den Ballungsräumen zunehmend selbst zum Verhängnis, während in der France profonde ungezählte Menschen total abhängig von ihm sind, um ein halbwegs angenehmes Leben führen zu können. Doch anstatt zu fordern, dass auch auf dem Land endlich ein anständiger ÖT angeboten wird, wünschen sich die Gelbwesten im Wesentlichen die Zementierung des verkehrspolitischen Status quo, mittels billigen Benzins. Dem Menschen ist in der Regel die Haut näher als das Hemd: Billiger Treibstoff heute ist ihnen lebenswichtig. Umweltprobleme morgen sind ihnen dagegen schnurzpiepegal. Dabei sind es ihre eigenen Kinder, welche diese dereinst auszubaden haben werden.

Doch letzten Endes ist diese Jacquerie eben auch das Resultat einer Politik, die seit dem Ende der „Trente Glorieuses“ den sozialen Abstieg breiter Bevölkerungsschichten mit brutaler Gleichgültigkeit hinnimmt. Der daraus resultierende Frust entlädt sich in Revolten, im Laufe derer die weitreichende Abwesenheit von jedweder Form von politischem Bewusstsein durch fröhliches und chaotisches Die-Sau-Rauslassen ersetzt wird. Und in nicht allzu ferner Zukunft werden wir daher wohl eine Fascho-Führerin im Elysée-Palast sitzen haben.

roger wohlfart
24. November 2018 - 19.20

Armes Luxemburg, wo man so denkt!

roger wohlfart
23. November 2018 - 17.54

Aber dies " Daueraufreger " haben leider nicht die Chance oder das Privileg, mit Lebens-und Immobilienpreisen wie wir konfrontiert zu sein, weil sie mit sehr viel weniger auskommen müssen! So sieht die Realität in Frankreich aus, @ Realist.

Jacques Zeyen
23. November 2018 - 8.52

Genau darum geht es ja. Wenn sie einen Mindestlohn haben,wenn überhaupt,und sie müssen jeden Tag 2 Stunden Auto fahren,dann macht es schon etwas aus ob der Sprit 2 Euro kostet oder einen. Bei jeder Demo,auch in anderen Ländern warten ein paar Idioten darauf Randale zu machen. Das Thema bleibt aber dasselbe: Ausbluten der Bevölkerung. Man baut ein System auf,welches auf Konsum aufgebaut ist,lässt die Menschen aber nicht konsumieren,weil man ihnen das Geld verwehrt.Das ist Unsinn.Dazu braucht man nicht auf Eliteschulen zu gehen.

Pol
22. November 2018 - 11.42

Man kann nicht alles haben im Leben. Rente mit 55, dauernde Streiks, Firmenbesetzungen, mutwillige Zerstörungen, Atombombe, Auslandseinsätze, usw. "Grande Nation" und "Grande Gueule" gehen Hand in Hand. Bezahlen soll dann schlussendlich die Angela. Selbst die elitären ENA Absolventen haben weder in der Politik noch in der Wirtschaft etwas ausrichten können. Bliebe noch der Sturm auf die Bastille. Armes Frankreich !

Realist
22. November 2018 - 7.49

Bitte keine Äpfel mit Birnen vergleichen, Herr Zeyen. Meines Wissens demonstrieren die Gelben Westen nicht weil sie keinen Job haben, sondern weil ihnen die Treibstoffpreise zu hoch erscheinen. Heute dies, morgen schon wieder etwas anderes. Hauptsache, man kann ein paar Reifen auf der Autobahn abfackeln. Man fragt sich, was diese Daueraufgeregten wohl anstellen würden, wenn sie mal mit Lebenshaltungs- und Immobilienpreisen wie hierzulande konfrontiert wären. Würde dann gleich ein Bürgerkrieg ausbrechen? Und, wichtig: würde das etwas bringen? Für Sie mag es lahmarschig sein, wenn hierzulande allenfalls mal "von 12:00 bis 14:00 Uhr" gestreikt wird. Möglicherweise ist genau diese Einstellung aber auch mit ein Grund dafür, dass wir hier allgemein besser dran sind als in manch anderen Ländern.

Jacques Zeyen
21. November 2018 - 22.30

Realist???? My Ass. Komm mal nach Frankreich und versuche mit deinem Einkommen,falls du welches hast,über die Runden zu kommen. Wenn die braven 6.000.000 Arbeitslosen in Deutschland dieselbe " Chuztpe" aufbringen würden wie die Franzosen,dann wäre unsere Angela von der Merkel längst abgezapft. Auch in Luxemburg wird vorzugshalber von 12.00 bis 14.00 Uhr gestreikt.Wenn die Politidioten mit den Knien unter dem Mittagstisch sitzen. Resultat? Gleich null. Wenn die Schreihälse einen Job hätten,dann würden sie vielleicht nicht so laut schreien. Also,sei etwas realistischer.

Realist
21. November 2018 - 18.07

Die Franzosen sind am Zustand ihres Landes selber Schuld, ein Macron hat damit nichts zu tun. Buchstäblich alle 10 Minuten wird dort doch gestreikt, demonstriert, die Arbeit niedergelegt, Direktoren als Geiseln genommen, werden Sachen kaputt geschlagen, Traktorreifen in Brand gesteckt und blockieren irgendwelche Demonstranten mit gelben, grünen oder roten Plastikwesten Strassen und Schienen, um auch die letzten Arbeitswilligen zu entmutigen. Wenn all diese Schreihälse mit derselben Hingabe einfach nur ihren Job tun würden, wäre vieles besser, auch ihr Einkommen. La Grande Nation? Das war mal. Heute nur noch La Grande Gueule.

roger wohlfart
21. November 2018 - 17.45

Vollkommen richtig! Wir, hier im Schlaraffenland Luxemburg, haben keine Ahnung wie es bei unserem Nachbarn, der " Grande Nation " , wirklich aussieht. Und Macron, dieser Sunnyboy. noch weniger!

Jacques Zeyen (vom Allerwertesten der Welt)
21. November 2018 - 12.16

Das Ausbeuten der Bevölkerung hat einst zur Revolution geführt. Die Betroffenen Franzosen die vom Auto abhängig sind um zur Arbeit (falls vorhanden)zu fahren,Kinder in entfernte Schulen zu bringen,Einkäufe zu besorgen,einen Arzt zu besuchen(Hausbesuche gibt es nicht),usw. usw. und dabei am Ende des Monats für 13,50€ zu tanken weil nicht mehr im Beutel ist,denen ist die Umwelt ziemlich egal.Zumal sie wissen,dass sie sich auch morgen noch keinen E-Wondercar leisten können. Hier fahren alte Kleinlaster oder Minibusse die 40 Jahre auf dem Buckel haben aber gebraucht werden weil man damit Holz zum Verkauf anbietet,das verbrannt wird weil man sich kein Heizöl leisten kann. Man sieht also woran es liegt. Eine Regierung die das Volk ausblutet kann wenig Verständnis von demselben erwarten,wenn es um Nato-Beiträge oder Umweltschutz geht.

luss
21. November 2018 - 11.33

liegt das Problem Frankreichs nicht in der sehr hohen oeffentlichen Verschuldung. Wenn die haelfte der oeffentlichen Ausgaben zur Schuldentilgung ausgegeben werden bleibt kein Geld mehr um die marode Infrastruktur Frankreichs zu erneuern. Ein grosser oeffentlicher Dienst verschlingt auch sehr viel Geld. Luss

Marc
21. November 2018 - 9.58

Bevor man die Bevölkerung im ländlichen Bereich derartig vor den Kopf stößt, sollte man einen anständigen ÖT anbieten... nicht umgekehrt. Mal davon abgesehen, geht es der französischen Regierung eher ums füllen des Staatsäckleins als um Klimaschutz. Dieser dient wohl eher als Legitimierung.