Le futur sera virtuel …

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… ou il sera quand même

Auf dem Potsdamer Platz, unweit der Kinosäle, in denen momentan die 68. Berlinale stattfindet, hängt ein Poster, auf dem ein gezeichneter Hund, Spots, als vermisst gemeldet wird. Man kann vom Besitzer Atari ausgestanzte Zettelchen mitnehmen, um die dort verzeichnete Nummer zu kontaktieren, falls man fündig geworden sein sollte. Die Comic-Zeichnung müsste es eigentlich verraten: Wirklich gesucht wird Spots bloß im neuen Film von Wes Anderson, und auch nur dort existiert sein Besitzer Atari. Solche Phänomene gibt es mittlerweile zuhauf – für die Serie „The Man in the High Castle“ wurde als Promo-Gag ein ganzer Zugteil der New Yorker Metro mit der grafischen Symbolik des Dritten Reiches dekoriert, weil in der beworbenen Fiktion eine Welt entwickelt wird, in der die Nazis den Weltkrieg gewonnen haben. Es geht bei solchen Prozessen, genau wie bei der Virtual-Reality-Technologie, um die Ausdehnung des Eintauchens in andere Welten.

Die VR-Technologie verstärkt dieses Gefühl des Eintauchens, da hier sämtliche Sinne in Anspruch genommen werden und die Außenwelt gleichermaßen ausgegrenzt bleibt, da, wo man im Kino Popcorn-kauenden Kunden und anderen Ablenkungsquellen ausgesetzt ist, die es erschweren, sich auf die dargestellte Welt einzulassen. Technologie war immer schon maßgebend für die Entwicklung der Kunst: „L’électricité modifia complètement l’écriture, la production et l’écoute de la musique. C’est toujours la technologie qui révolutionne les arts“, schreibt Grégoire Bouillier in „Le Dossier M“, bevor er präzisiert, dass die Erfinder der Vinylscheibe sicherlich revolutionärer waren als jeder Musiker, der seitdem geboren wurde. Der VR-Pavillon des diesjährigen Luxembourg City Film Festival wurde ähnlich fortschrittlich angekündigt: „Le futur sera virtuel ou il ne sera pas.“

Nun kann man es aber nicht bei dieser Feststellung belassen. Erst mal bleibt uns z.B. die letzte große technologische Revolution – das Internet – ihre Kunstrevolution noch schuldig. Weiter: Letztes Jahr bot der VR-Pavillon in Luxemburg u.a. die Möglichkeit, neben Schweinen im Schlachthaus zu stehen oder die Rolle einer Frau anzunehmen, die sich zur Abtreibungsklinik begibt und von konservativen Amerikanern aufs Schlimmste beschimpft wird. Trotzdem ist Safran Foers Buch „Eating Animals“ über Massentierhaltung schockierender als die VR-Erfahrung im Schlachthaus. Es scheint, als würden sich die selbst geschaffenen Bilder, die nach dem Lesen eines Buches im Kopf herumspuken, tiefer in unserem Gedächtnis verankern als die Szenen der VR-Erfahrungen. Vielleicht, weil beim Lesen von Büchern Darstellungen entstehen, zu denen wir eine persönlichere Bindung haben, vielleicht, weil die rezenten Entwicklungen in narrativer Kunst uns seit dem Kino immer mehr vorgeben, wie die Welten, in die wir eintauchen, aussehen und unsere Vorstellungskraft so gezügelt wird und uns dies zum Teil ärgert, vielleicht aber auch, weil es mit der Technik noch hapert. Aus denselben technischen Gründen weigert sich Christopher Nolan beispielsweise seit Jahren, auf den 3D-Filmzug aufzuspringen.

Dass das VR-Pavillon des kommenden Filmfestivals es wiederum erlauben wird, die technologischen Entwicklungen zu überprüfen, ist gut. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass ein Poster auf dem Potsdamer Platz ein ähnliches, vielleicht reichhaltigeres Eintauchen in eine andere Welt erlaubt – ohne andere Mittel als ein Blatt Papier.