Kultur anstatt Verkehr

Kultur anstatt Verkehr

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Am 19. September dieses Jahres war Marie NDiaye vom Institut Pierre Werner ins Neimënster eingeladen worden. Die französische Schriftstellerin gilt als eine der bedeutendsten Autorinnen der zeitgenössischen Literatur. Auf einer Bestenliste, die vor einigen Tagen von der Zeit veröffentlicht wurde, stand die deutsche Übersetzung ihres 2016 bei Gallimard veröffentlichten Romans „La cheffe – roman d’une cuisinière“ an prominenter Stelle.

Als Marie NDiaye dann in Luxemburg auftrat, waren kaum mehr als 50 Leute in einem plötzlich überdimensionierten Saal. Diese Gegebenheit habe ich in Luxemburg schon mehrfach und in allen möglichen kulturellen Deklinationen miterleben dürfen. 2015 spielten z.B. die sensationell tollen Caspian im kleinsten Saal der Rockhal vor etwa 30 Leuten.

Oft aber sind es bedeutende Autoren, die im Neimënster vor viel zu wenigen Leuten aus Büchern vorlesen oder in Gesprächen mit renommierten Wissenschaftlern vom Schreiben und ihren Lebenserfahrungen erzählen.

Etienne Schneider hat vor kurzem vorgeschlagen, die Verkehrsprobleme, die die Lebensqualität im Großherzogtum erheblich senken und den Grenzarbeitern den Alltag fast zur Hölle machen, zu regulieren, indem mehr Arbeit von zu Hause aus geleistet werden soll. Dass das Büromodell, ob „open“ oder „closed“, im Zeitalter des Internets zumindest teilweise veraltet ist oder überdacht werden muss, steht für mich außer Frage. Obligatorisches Carsharing wäre auch ein Lösungsansatz.

Hier könnte aber auch die Kultur verstärkt eine Rolle spielen. In Luxemburg gibt’s nämlich, klammert man die Schulferien mal aus, im Schnitt pro Woche mindestens vier tolle Konzerte, drei interessante Theaterstücke, zwei spannende Lesungen, Vorträge, Tanzspektakel, mit denen man sich die Zeit vertreiben könnte, bis die großherzoglichen Straßen wieder befahrbar sind. Zwei Stunden Kultur – und dann 30 Minuten Heimfahrt, anstatt zwei Stunden Stau und dann Theater zu Hause, weil man den angestauten Frust notgedrungen irgendwie rauslassen möchte.

Dass sich unter den Autofahrern, die sich nach der Arbeit mit ihrem Gefährt auf die Straßen stürzen, um Teil der stinkenden Metallschlange zu werden, die sich durch das ganze Land und über die Grenzen hinauszieht, auch Universitätsprofessoren befinden, ist umso problematischer, da genau diese ihren luxemburgischen Studenten (von denen man bei solchen Veranstaltungen auch sehr wenige sieht) die Leidenschaft für Kultur vermitteln müssten – und nicht die Passion für die schnelle Heimfahrt. So leben sie das Modell eines funktionalen, wirtschaftszentrierten Alltages an einer funktionalen, wirtschaftszentrierten Universität vor. Kulturleben ist halt zu einem großen Teil eine nächtliche Angelegenheit.

Vielleicht könnte das Kulturministerium den Grenzgängern (und Einheimischen) zu verstehen geben, dass man, anstatt sich durch den Verkehr zu quälen, sich kulturell bereichern könnte (es ist ja bei der Auswahl für jeden Geschmack etwas dabei) oder gar ein spezifisches Programm, getreu dem Motto „Kultur gegen den Stau“, erstellen sollte. Bei einem Interview mit den Koordinatoren von „Esch 2022“, deren Verträge ja jetzt verlängert wurden, war genau dies einer der Wünsche von Janina Strötgen: dass das interessierte Publikum doch etwas länger im Land verweilen möge, um sich so das Warten auf das Entknoten des Staus mit Kultur zu vertreiben.

Till Eulenspiegel
19. Dezember 2017 - 6.47

Über Kultur lässt sich streiten, aber Herr Schinker es erfreut mich ,daß Sie sich dem geschriebenen Wörtern annehmen, Gegenwind unserer digitalisierten Welt setzen und das Buch, seinen Autor würdigen.