Perfektionismus als Antwort

Perfektionismus als Antwort

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Viele kennen Edgar Bisenius als umtriebigen und kritisch denkenden Generalsekretär von Protinvest. Er setzt sich mit viel Herzblut für ein transparenteres Finanzwesen des Staats ein. Was jedoch nur wenige bislang wussten: Bisenius ist Dyslexiker. Ein Porträt.

Edgar Bisenius redet viel und schnell. Belangloses ist nicht seine Stärke. Er setzt sich mit Elan für seine Ideen und Projekte ein. Bisenius investiert in jeden Satz seine volle Energie. Sein Auftreten ist authentisch. Er verstellt sich nicht. Wieso sollte er auch. Er, der sich gewöhnlich mit der Regierung anlegt und keine Debatte scheut. Er, der an die Öffentlichkeit geht und gelegentlich als Querdenker, aber auch als „dee vu Protinvest schonn erëm“ abgetan wird.
Authentisch ist Edgar Bisenius aber auch, weil er den Mut findet, mit seiner Lebensgeschichte an die Öffentlichkeit zu treten. Während die meisten Politiker, Unternehmer und Normalos damit beschäftigt sind, in ihrem Berufsleben, bei Privatanlässen und in der digitalen Welt an ihrem Image zu feilen, traut Bisenius sich etwas Ungewöhnliches: Er redet offen über sein Leben mit Dyslexie.

Nicht weil es sich um etwas Dramatisches handelt, nicht weil es eine „schlimme“ Krankheit ist, sondern weil Bisenius um die vielen Stereotype weiß. „Es ärgert mich, dass Menschen immer noch glauben, Personen mit einer Dysstörung seien dumm oder unbegabt“, kritisiert der ansonsten gut gelaunte Luxemburger.

Begabung keine Ausnahme

„Man sollte sich endlich von der Vorstellung trennen, Kinder, die unter Dyslexie leiden, seien weniger begabt als ’normale‘ Kinder. Das hat überhaupt nichts mit normal zu tun. Eine Lernschwäche oder ähnliche Probleme haben nichts mit Intelligenz oder Talent zu tun“, erklärt Bisenius. Im Gegenteil. Menschen mit Dyslexie könnten teilweise noch begabter oder intelligenter als andere Individuen sein. Allerdings entdecke niemand diese Intelligenz, weil etwa die Früherkennung von Dyslexie ein Problem darstelle.

„Ich hatte großes Glück als Kind, dass ich liebevolle Eltern und einen sehr engagierten Lehrer hatte. Sie haben mich mit vollem Einsatz begleitet und mir dabei geholfen, meine Schwierigkeiten in den Griff zu kriegen“, beschreibt Bisenius. Für ihn sei etwas glasklar: Die Eltern seien zentral, um frühzeitig Phänomene zu erkennen, die auf Dyslexie hindeuteten.
Allerdings dürfe man kein Kind dafür bestrafen, dass die Eltern seine Probleme nicht erkennen.

Im Gegenteil. Gerade dort, wo die Eltern sich nicht genug um ihre Kinder kümmerten, sei es die Rolle der Schule und des Lehrpersonals, Lernschwächen der Kinder zu identifizieren. „Es gibt hervorragende Lehrer. Sie leben ihren Beruf. Sie sind für die Kinder da. Sie verstehen ihr Fach. Allerdings ist das nicht für alle der Fall. Es beginnt bereits bei der Ausbildung“, gibt Bisenius zu bedenken. Er zeigt Verständnis für das Lehrpersonal. Nicht jeder könne ohne die nötige Vorbildung Lernschwächen von Kindern erkennen. Umso mehr müsse das künftige Lehrpersonal während seiner Ausbildungszeit für Phänomene wie Dyslexie sensibilisiert werden.

„Gerade deswegen halte ich die Initiative der Großherzogin, auf Dyslexie aufmerksam zu machen, für sinnvoll. Die Öffentlichkeit muss sich gründlicher mit diesen Fragen beschäftigen“, fordert Bisenius. Und aus dem gleichen Grund traut sich Bisenius auch ohne Hemmung an die Öffentlichkeit.

Dyslexie sei nichts Unehrenhaftes. Im Gegenteil. Allerdings vermisse er das Verständnis der Öffentlichkeit. „Wenn jemand sich ein Bein bricht, eilt man ihm zu Hilfe. Man hält ihn nicht für dumm, sondern versucht ihn mit den nötigen Hilfsmitteln zu heilen. Leidet jedoch ein Kind an einem schulischen Beinbruch, wird es zunächst bewertet. Man hält es für ‚dumm‘. Was für ein Unfug“, ruft der ansonsten ruhige Querdenker.

Seine Aussagen wirken nie bitter. Im Gegenteil. Edgar Bisenius ist sich der Stärken von Dyslexikern bewusst. Sie müssten teilweise anders denken, seien aber in der Welt „normaler“ Menschen zu Hause. Sie verstünden die Gedankenkonstrukte von Menschen, die nicht an Dyslexie litte, seien jedoch gleichzeitig in der Lage, eine völlig andere Denkweise zu wählen.

„Ich habe das in meinem Leben immer wieder erlebt. Ich konnte mich auf meine Gesprächspartner auf eine ganz andere, oft für sie überraschende Art und Weise einlassen, weil ich gelegentlich kreativere Denkprozesse durchlebt habe“, erinnert sich Bisenius. Man könnte es als „thinking outside of the box“ bezeichnen. Dyslexiker sind oft hochtalentiert. Leider seien viele Lehrer nicht in der Lage, diese Talente zu erkennen. Ihr Fokus liege in dem Fall zu stark auf den Lernschwächen des Kindes, denen sie aber nicht mit den richtigen Mitteln begegnen würden. Es entstehe dadurch eine Abwärtsspirale. Das Kind leide, weil es sich für dumm halte. Das Lehrpersonal leide wiederum, weil es keine Lerneffekte bei den betreffenden Schülern feststelle.

„So etwas darf einfach nicht passieren“

„So etwas darf einfach nicht passieren. Das Schulsystem und die Lehrerausbildung müssen so strukturiert sein, dass Früherkennung von Problemen kein Zufallsprodukt mehr bleibt“, betont Bisenius. Hätte er keine liebenden Eltern und keinen verständnisvollen Lehrer gehabt, wäre er nie in der Lage gewesen, Dyslexie als Herausforderung statt als Niederlage zu sehen.

Bisenius machte sich seine Probleme zur Herausforderung. Er ließ sich nicht einschüchtern und hatte eine einfache Devise als junger Mensch: „Ich war stets vom Glauben angetrieben, morgen überwindest du deine Schwäche. Du kannst dich verbessern und deine Probleme in den Griff kriegen.“
Bisenius übertreibt nicht. Wer ihm über längere Zeit zuhört, versteht, wieso er diese Hartnäckigkeit und Kreativität entwickelt hat. Als Dyslexiker versuche man stets alles so gut wie möglich zu machen. Man wolle sich nicht die Blöße geben. Im Gegenteil. Jede Aufgabe wolle mit Bravur gemeistert werden.

Ob das denn nicht zu einer Art Perfektionismus führe, lautet die Frage. Er wirkt erstaunt, denkt kurz nach, lächelt und nickt mit dem Kopf. „Ja, ich habe das eigentlich noch nie so gesehen. Aber, ja, das stimmt. Besonders als Kind will man den anderen zeigen, dass Potenzial in einem steckt. Dass man genauso intelligent ist und lediglich an einer Lernschwäche leidet.“ Es ist genau diese Form des Perfektionismus, die so oft während der Diskussion über Dyslexie vergessen wird. Menschen mit Lernschwächen können zu Höchstform auflaufen. Sie sind teilweise hochbegabt und müssen nur in der Schule und mit etwas Glück in ihrem Elternhaus auf die richtige Betreuung treffen.

„Meine Mutter war so eine liebevolle und geduldige Person. Sie hat sich viel Zeit für mich genommen. Wir saßen streckenweise stundenlang da, um an meinen Schwächen zu arbeiten.“ Dabei sei dies gar nicht nötig, erklärt Edgar Bisenius. Es sei nicht die Quantität, die den Kampf gegen Dyslexie erleichtere, sondern die Qualität, der innovative Gedanke hinter den Lernmethoden.

„Heute weiß man, dass es nicht die verbrachten Stunden hinter den Büchern sind, sondern die pädagogischen Hilfsmittel, die Dyslexikern helfen“, sagt Bisenius. Man müsse auf die Kinder eingehen, ihre individuellen Sorgen erkennen und erst dann gezielt auf eine Lösung hinarbeiten.

Er klingt fast selbst wie ein Experte. Der Perfektionist strahlt auf. Woher er denn die ganze Kraft und den Optimismus hergenommen habe, fragt man ihn.

Er denkt nach, reibt sich kurz die Hände, die Augen strahlen: „Ich wusste immer, dass ich genauso normal bin wie alle anderen auch. Ich rate jedem Kind und allen Eltern, die mit Dyslexie konfrontiert sind, sich dies vor Augen zu führen: Man kann Dyslexie behandeln – wenn sie frühzeitig erkannt wird.“