Wie der Geek die Unschuld verlor

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Als die zweite Staffel von „Stranger Things“ an den Start ging, meldeten sich viele für einige Stunden von den Zwängen der Wirklichkeit ab, um die neun Episoden in einem Zug zu binge-watchen. Die Leute waren gebannt, aber am Ende auch teilweise enttäuscht. Nicolas Wildschutz und Jeff Schinker haben sich Gedanken über die Gründe des Hypes um „Stranger Things“ gemacht – und ein paar Hypothesen zum Abebben der Begeisterung am Ende der zweiten Staffel aufgestellt.

Nicolas Wildschutz: Was mich an der ersten Saison sofort fasziniert hat, war der Aufbau der Atmosphäre: die Synthieklänge aus den 80ern gepaart mit dem Kleinstadtflair und den langsam auftauchenden Sci-Fi-Elementen, die sich erst nach und nach bemerkbar machen.

Jeff Schinker: Die flächigen Synthiesounds klingen zwar nach den 80ern, die Samples und die Produktion entsprechen aber heutigen Standards. Das finde ich symptomatisch, da hier eine Ära aus einer nostalgischen, heutigen Perspektive beleuchtet wird. „Stranger Things“ kombiniert geschickt Modernität und Old School. Mitverantwortlich für den Erfolg der Reihe ist für mich auch der geekige Flair der Serie, der durch Elemente wie den AV-Club und die Brettrollenspiele aufkommt.

N.W.: Dieser Retro-Flair ist momentan ja ganz verbreitet – man sieht zum Beispiel wieder Leute mit Adidas- und Nike-Pullovern aus jener Zeit herumlaufen. Damals waren die Geeks, die Zocker und die Rollenspielfans Teil einer Subkultur, die eher belächelt, wenn nicht sogar verachtet wurde.

 

J.S.: Und jetzt taucht eine Nostalgie für ebendiese Subkultur auf, deren Angehörige damals am Rande der Gesellschaft wahrgenommen wurden. Ich denke, das hat damit zu tun, dass es oft ebendiese Geeks sind, die heute Machtpositionen besetzen – man denke an Zuckerberg oder Jobs. In einer Welt, in der Wissen und Kontrolle Macht sind und in der man im Internet am einfachsten an Wissen kommt und Kontrolle erlangen kann, ist es logisch, dass wir uns für die Epoche interessieren, in der sozusagen der Ur-Geek entstand. Damals wurde dieser vielleicht verachtet – heute beneiden wir seine Fähigkeiten.

N.W.: Stichwort Macht: Die Informatik und die Leute, die sich damit auskennen, haben heute eine Relevanz, die vor ein paar Jahren ungeahnt war. Man denke an Bitcoins, die die Wirtschaft erobern, oder an Wikileaks-Gründer Julian Assange, der zeigt, dass sich diese Leute auch politisch einmischen können. Diese Geeks sind langsam in die Sphären der Wirtschaft und der Politik eingedrungen.

J.S.: Gleichermaßen gibt es bei „Stranger Things“ eine Rückkehr zur Unschuld des Geeks, der einfach bloß spielen will. Diese Verspieltheit und Unschuld kontrastiert mit dem Einbruch des Erwachsenenlebens und der Schattenwelt, in der das Monströse auflauert: Das kann man natürlich allegorisieren.

N.W.: Wir haben hier die Struktur einer klassischen Heldensaga. Die Hauptfiguren sind Außenseiter, werden wie in Stephen Kings „It“ anfangs von den coolen Jungs verprügelt – und werden dann später zu Helden. Empathie ist in meinen Augen überaus wichtig, um den Erfolg der Serie zu erklären. Dazu kommt dann die Rückkehr der Faszination für das Science-Fiction-Genre. Themen wie die KI oder die Robotisierung der Arbeit tragen vielleicht zur Rückkehr dieses Trends bei.

J.S.: Vielleicht spüren wir, dass uns die Sci-Fi-Welten (in hypothetischer Form) mehr über das Unmittelbare erzählen als mimetische Filme, die von einer Realität handeln, die wir bereits kennen. Science-Fiction bietet verschiedene Zukunftsmöglichkeiten, mit denen wir uns auseinandersetzen können.

N.W.: Für mich ist diese Sache mit den 80ern ausschlaggebend: Es gibt den Nationalstolz und es gibt den Ära-Stolz. Die 80er sind eine Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft. Computer füllten keine ganzen Räume mehr und man spürte, dass sich etwas ändern würde. Die 80er sind dabei, ein Businessmodell zu werden – Leute kaufen in Berlin auf Märkten 80er-Jahre-Krimskrams und geben dafür Unsummen aus. „Stranger Things“ kondensiert diesen Hype.

J.S.: Es scheint fast so, als hätte „Stranger Things“ mit seiner Retro-Ästhetik den Nerv der Zeit getroffen. Nur liegt dieser halt in den 80ern. Oder in der Nostalgie für diese Epoche. Vielleicht kehren wir momentan auch zu den 80ern zurück, weil sich hier der Ursprung, der Schlüssel zur Welt, in der wir jetzt leben, befindet.

N.W.: Und trotzdem war es wohl ein Überraschungserfolg. Ich denke, die Schöpfer der Serie waren sich auch gar nicht bewusst, dass sie damit so erfolgreich sein würden.

J.S.: Weswegen die erste Staffel erzählerisch fast ganz abgeschlossen hat – als wäre man sich bewusst gewesen, dass es nicht unbedingt eine zweite Staffel geben musste. Gleichzeitig ließ man eine kleine narrative Tür geöffnet.

N.W.: … die zu klein war.

J.S.: Genau. In der ersten Staffel hatten wir eine geschlossene Welt (die Kleinstadt), die erzählerisch fertiggestellt war. Die zweite Staffel beginnt mit dem Öffnen dieser Welt: Man ändert die Location, fügt eine andere Figur hinzu, die auch Superkräfte hat. Mit dieser neuen Figur hält man die Möglichkeit parat, die Fiktionswelt durch eine beliebige Anzahl solcher Figuren mit Superkräften größer werden zu lassen. Man garantiert so die Langlebigkeit der Serie – damit verschwindet allerdings auch das Kleinstadt-Feeling. Und trotzdem war man nicht konsequent genug und begann diese erzählerische Weltöffnung, um dann fast durchgehend in der Kleinstadt zu verweilen. Als würde man hier bloß die dritte Staffel vorbereiten.

N.W.: Es wäre interessant gewesen, die Serie ganz aus der Kleinstadt zu verlegen. Hier hat man den Eindruck, man hätte bloß was ausprobieren wollen – man spürt, dass diese Staffel nur eine Zwischenetappe sein soll. Dieses Aufbrechen wäre umso wichtiger gewesen, weil die zweite Staffel exakt die gleiche Erzählstruktur besitzt wie die erste.

J.S.: Mit dieser Öffnung könnte „Stranger Things“ zu einer Art Remake von „Heroes“ werden – es machen sich jetzt schon identische Themen (wie z.B. das gute oder schlechte Einsetzen der Superkräfte) bemerkbar. Nur dass „Heroes“ von Anfang an als weltdeckende Fiktion angelegt war, wo „Stranger Things“ bisher vom Provinziellen lebt. Die Staffel wirkt wie ein Kompromiss: Man wusste, dass das Kleinstadt-Konzept funktioniert, und hat es folglich beibehalten, allerdings war man sich auch bewusst, dass dieses Schema auf Dauer ermüden würde, und hat deswegen zaghaft Neues eingeführt.

N.W.: Mit dem Ausbruch aus der Kleinstadt wurde auch die mysteriöse Atmosphäre gebrochen, die zum Teil aber den Charme der Serie ausgemacht hat – das Böse, das draußen lauert, die Firma und ihre Machenschaften, die als einzige Manifestation der Außenwelt vorhanden war. Aber ist dir aufgefallen, dass die Story auch diesmal abgeschlossen wurde? Wie in der ersten Staffel. Das erweckt ein bisschen den Eindruck einer Erzählschleife. Im Gegensatz zu Serien wie z.B. „Breaking Bad“, bei der es von Anfang an eine klare Struktur gab, die auf ein Ende zuführte.

J.S.: Vielleicht ist die Serie à la „Breaking Bad“ ein Auslaufmodell, weil sie finanziell weniger tragbar ist. Die Geschichte, die „Breaking Bad“ erzählt, benötigt mehr als eine Staffel. Dies war genauso klar wie die Tatsache, dass man vielleicht aus finanziellen Gründen oder/und aus Erfolgslosigkeit nicht bis ans Ende dieser Geschichte gelangen würde. Heute sichern sich die Produzenten ab, oft hast du Serien, die mit einer Staffel auch ihre Story abschließen. Die Wissenschaftlerin Anne Besson unterscheidet zwischen Serie und Zyklus. Bei der Serie gibt es keine Entwicklung, es gibt nur Loops: Nichts, was passiert, hat Konsequenzen, in der nächsten Episode ist wieder alles beim Alten (man denke z.B. an die Simpsons). Beim Zyklus hingegen gibt es eine narrative Weiterentwicklung. Mittlerweile müsste man zwischen den Serien unterscheiden, die innerhalb einer Staffel eine Geschichte (teilweise) abschließen, und jenen, die ihre Geschichte immer weitererzählen. Die erste Kategorie ist natürlich finanziell gesehen weniger riskant, da man sie fast zu jedem Zeitpunkt abbrechen kann.

N.W.: In diesem Prozess geht der künstlerische Aspekt ein bisschen verloren. Die erste Staffel war liebevoll gestaltet. Das kommt wohl davon, wenn wirtschaftliche Zwänge gegen das Ideal künstlerischer Freiheit arbeiten.

J.S.: Gerade diese Geschichte, deren Herzstück diese unschuldigen Kinder sind, die der Welt mit einer erfrischenden Naivität gegenübertreten, hat jetzt mit der zweiten Staffel eine neoliberale Richtung eingeschlagen.

N.W.: „Stranger Things“ fühlt sich nun mehr wie ein Produkt an, es gibt wirtschaftliche Einsätze. Und das hinterlässt einen etwas bitteren Nachgeschmack.