Theater als nüchterner Barock

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Die Regisseurin Carole Lorang und ihre Theaterkompanie Le Grand Boube sind in Luxemburg längst keine Unbekannten mehr. Das von ihr konzipierte Theaterprojekt „Ni vu ni connu“ startet heute Abend mit seiner 16. Auflage bereits in die dritte Saison./ Janina Strötgen

Mit dem Tageblatt sprach Carole Lorang über kommende Projekte, aber auch über ihre Auffassung von gutem Theater, über die luxemburgische Theaterszene und darüber, wie wichtig es gerade für junge Theatermacher ist, einen weiten Blick zu behalten und sich immer wieder mit Künstlern aus dem Ausland zu messen.

Tageblatt: Wie beurteilen Sie die Möglichkeiten, sich hier in Luxemburg als junge Regisseurin zu entfalten und zu etablieren?
Carole Lorang: „In Luxemburg haben wir große Möglichkeiten, uns zu entfalten, zumindest eine Zeit lang. Wenn ich mich mit Kollegen vergleiche, die mit mir in Brüssel studiert haben, sehe ich es als große Chance an, wie viel ich hier in Luxemburg bereits machen konnte. Viele meiner Studienkollegen sind heute noch, Jahre nach ihrem Abschluss, froh um jede Regieassistenz, die sie bekommen. Und der Unterschied liegt sicher nicht in der Qualität ihrer Arbeit, sondern darin, dass sie sich von Anfang an einer viel größeren Konkurrenz stellen müssen. Das Leben als Künstler hier in Luxemburg ist sicher komfortabler und einfacher als im Ausland, das darf man nicht vergessen. Anstatt sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen, ist es aber wichtig, sich der Konkurrenz im Ausland zu stellen. Sonst ist man sehr schnell an einem Punkt angelangt, von dem man sich nicht mehr weiterentwickeln kann. Luxemburg ist einfach zu klein. Der Blick über die Grenze ist wichtig, um bescheiden zu bleiben und nicht völlig abzuheben, nur weil man hier schon mit den großen Häusern zusammengearbeitet hat.“

„T“: Was ist ausschlaggebend bei der Unterstützung junger Theatertalente?
C.L.: „Das Wichtigste ist, junge Leute zu motivieren, diesen Job, sei es nun Regie oder auch Schauspiel, wirklich zu erlernen. Wenn sie bereits als Schüler Erfolge auf Luxemburger Theaterbühnen feiern, können sie sich auch schnell Möglichkeiten verbauen. Es ist gefährlich, bereits sehr jung in das Theaterleben hier hineinzurutschen, in Luxemburg zu bleiben und hier seinen Weg zu machen, was ja möglich ist. Doch was kommt danach? Was machen sie mit 25? Ich bin davon überzeugt, dass es wichtig ist, zu studieren. Erstens schadet es auch dem größten Naturtalent nichts, und zweitens ist es allein wegen der Erkenntnis wichtig, dass man nur einer unter vielen ist. Und diese Erkenntnis bekommt man nur im Ausland.“

„T“: Sie arbeiten selbst auch mit CarréRotondes zusammen, um Jugendliche ans Theater heranzuführen. Der Theaterwettbewerb „Scènes à deux“ geht in die zweite Runde.
C.L.: „Ja, der Wettbewerb richtet sich an Jugendliche von 12 bis 19 Jahren. Zu zweit arbeiten sie gemeinsam mit uns an Theaterszenen zeitgenössischer Autoren. Natürlich geht es uns eher um das Pädagogische als um den Wettbewerb. Doch den Gewinnern winkt eine Reise nach Brüssel ans Nationaltheater. In Belgien findet dieser Wettbewerb bereits seit 25 Jahren statt. Deshalb sind auch dort die Aufführungen der Gewinner mit anschließendem Theaterfest.“ (Informationen siehe blauer Kader.)

„T“: Was zeichnet für Sie eine belebte Theaterszene aus?
C.L.: „Fast alle Häuser hier in Luxemburg bieten interessante Sachen an. Doch wichtig finde ich, dass die einzelnen Häuser versuchen, stärker ihre Eigenart zu entwickeln. Jedes Haus sollte kontinuierlich an einem eigenen Profil arbeiten.“
„T“: In welchem Theater sehen Sie ein klares Profil?
C.L.: „Natürlich hat das Grand Théâtre eine klare Linie und ein tolles Programm, es ist ja in erster Linie ein ’Théâtre de coproduction et d’accueil’, das die großen internationalen Produktionen nach Luxemburg bringt. Somit kriegen wir als Zuschauer einen guten Überblick über das, was im Theater, im Tanz und in der Oper weltweit passiert. Das CarréRotondes hat auch eine ganz klare Ausrichtung mit unter anderem einem innovativen Kinder- und Jugendprogramm. Aber gerade auch die kleinen Theater versuchen verstärkt, eine eigene Linie zu entwickeln. Zu beobachten ist das zum Beispiel am Kasemattentheater. Es macht deutschsprachiges Theater mit einer interessanten Textauswahl, hat kleine Produktionen für ein kleines Haus und folgt einem Thema, das sich durch die gesamte Saison zieht. Außerdem herrscht eine gesunde Mischung zwischen Leuten von hier und eingeladenen Gästen aus dem Ausland.“

„T“: Sie haben gemeinsam mit dem Schriftsteller Mani Muller und der Schauspielerin Bach-Lan Lê-bà Thi im Kulturjahr 2007 Ihre eigene Theaterkompanie Le Grand Boube gegründet. Worum geht es Ihnen?
C.L.: „Eigentlich geht es uns beim Grand Boube in erster Linie um eine künstlerische Identität und dann auch um eine gewisse Unabhängigkeit sowohl in Luxemburg als auch im Ausland. Ich möchte selbst wählen, mit welchen Leuten ich zusammenarbeite. Wenn ich schon als ’Travailleur intellectuel indépendant‘ (Künstlerstatut) arbeite, habe ich sichtlich nicht den besten Statut, den man hier in Luxemburg haben kann. Deshalb möchte ich wenigstens meine Freiheit behalten. Wenn wir ein Projekt vorschlagen, haben wir viel gearbeitet und können dies begründen. Ich möchte mit Institutionen zusammenarbeiten auf gleicher Augenhöhe, als gleichgestellte Partner.“

„T“: Was ist Ihnen wichtig bei Ihrer Arbeit?
C.L.: „Ich möchte eine eigene künstlerische Identität und eine Ästhetik à la Grand Boube haben, die sich immer weiterentwickeln.“

„T“: Wie würden Sie Ihre künstlerische Identität definieren?
C.L.: „Es geht uns weniger um einen definitiven Begriff als vielmehr um den Weg, um die Suche nach Identität. Was uns nicht interessiert, ist realistisches Theater und das Nachahmen von alteingesessenen Regeln und Konventionen, die uns glauben lassen wollen, es gäbe eine richtige Welt und richtiges Theater. Wir finden es interessanter, zu zeigen, wie imaginäre Welten entstehen können und wie diese dann wieder Einfluss auf unsere Wahrnehmung der Realität nehmen. Wir möchten nachfragen, was eigentlich Realität ist, zeigen, dass es verschiedene Realitätsebenen und vor allem ihr Zusammenspiel gibt. Ein Thema, das mich in dieser Hinsicht sehr interessiert, ist zum Beispiel die Stille. Ich finde es spannend, im Theater zu experimentieren, was geschieht, wenn die Stille über das Wort überhand nimmt. Der Streit zwischen Wort und Stille, das Zusammenspiel zwischen Körpersprache und gesprochenem Wort.
Unsere Arbeit ist aber auch eine Allegorie der Suche des Menschen überhaupt. Sie bleibt realitätsbezogen, sonst würden uns garantiert die Zuschauer ausgehen. Veränderung ist wichtig, das Erfinden und Assoziieren von neuen visuellen und klanglichen Eindrücken ermöglicht es, in immer neue Zeiträume zu gelangen, wie in einem sinnvollen Traum, in dem sich viele gewohnte Grenzen aufheben. Wir möchten dramatische Kunsträume schaffen, die etwas Groteskes haben, die aber auch sehr schnell ins Tragische umkippen können.“

„T“: Und die Ästhetik?
C.L.: „Die Ästhetik ist eigentlich von diesem Suchen nach Unfassbarem geprägt, diesem Grenzüberschreiten. Das Ergebnis soll im Idealfall eine Art nüchterner Barock sein, das Erleben einer Fülle, die zwar letztendlich nur Illusion ist und die wir doch brauchen. Ich möchte auf jeden Fall, dass Theater sowohl den Geist als auch die Sinne anspricht, denn beide sind für mich nicht voneinander zu trennen.“

„T“: Die Sinne möchten Sie ja auch heute Abend in der neuen Ausgabe von „Ni vu ni connu“ ansprechen…
C.L.: „Ja. Für diese neue Saison von ’Ni vu ni connu‘ haben wir uns ein Thema gegeben. Wir wollen den Gaumen und den Geruchssinn ansprechen. Ansonsten bleibt das Konzept das alte. Immer am ersten Freitag im Monat wird ’Ni vu ni connu‘ an einem öffentlichen Ort stattfinden. Das Publikum wird erst am Donnerstag vorher informiert, wo wir auftreten werden. Das behalten wir bei, denn was wir in den letzen Jahren gemerkt haben, ist, dass viele Leute sich für den Ort interessieren und es spannend finden, wie wir den umgestalten und in ein anderes Licht rücken. Der Überraschungseffekt springt über. Er ist das Erfolgsrezept von ’Ni vu ni connu‘“ (Siehe blauer Kader)

Scènes à deux Theaterwettbewerb für Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren
Informationsveranstaltung für alle Interessierten am 13. Oktober um 17 Uhr im CarréRotondes,
1, rue de l’Aciérie,Luxembourg-Hollerich,
Telefon: +352 2662 2007
E-Mail:
info@rotondes.lu
Le Grand Boube
info@grandboube.com
www.grandboube.com

Ni vu ni connu
Haus vun der Natur, Kräizhaff,route de Luxembourg,
L-1899 Kockelscheuer 
Information und Reservation:
info@nivu-niconnu.lu www.nivu-niconnu.lu