Klassiker oder Newcomer?

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Wegen der Europawahlen enden die Internationalen Filmfestspiele von Cannes einen Tag früher als vorgesehen. Dies erklärt auch die geringere Anzahl an Filmen, 18 anstelle von 20, im offiziellen Wettbewerb.

Mit 55 Prozent der selektionierten Filme hatte Europa in diesem Jahr in Cannes eindeutig die Nase vorn. Vertreten waren insgesamt sieben Länder. Auch der nordamerikanische Kontinent lag gut im Rennen, 11 Prozent der Filme kamen aus den USA, 16 Prozent aus Kanada. Leider nur mit je einem Vertreter waren Südamerika (Argentinien), Asien (Japan) sowie Afrika (Mauretanien) ins Festival gestartet.

Am heutigen Samstag werden die Entscheidungen bekannt gegeben. Man darf gespannt sein. Favoriten gibt es viele, doch keines der oft hochgelobten Werke konnte sich von den Mitstreitern deutlich absetzen.

Welche Kriterien werden am Ende wirklich zählen? Jane Campion beschrieb die Arbeit als Jurymitglied so: Man erlebe Gefühle, die man noch nicht erfahren habe.

Mit zwei starken Frauen in der Jury, Jane Campion und Sofia Coppola, liegt die Vermutung nahe, dass ein Film mit frauenrelevanten Themen Chancen auf einen der Preise haben könnte.

Neues Wunderkind?

Exzellent im Rennen liegen dürfte damit Xavier Dolan, das neue Wunderkind der Croisette. Das kanadische Supertalent ist gerade mal 25 Jahre alt und hat bereits fünf Filme inszeniert. Er erinnert an einen anderen charismatischen Filmemacher, der in ähnlich frenetischem Rhythmus lebte und arbeitete: Rainer Werner Fassbinder hinterließ 41 Filme, gedreht in nur 13 Jahren. Im Alter von 37 Jahren verstarb er. Sein Lebensmotto: Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.

So wie Fassbinder ist auch Dolan an (fast) allen Produktionsetappen seiner Filme beteiligt: Er ist Schauspieler, zeichnet verantwortlich für Drehbuch, Regie, Schnitt, Kostüme und Ton, liefert oft auch noch die Originalromanvorlage und übersetzt ganz nebenbei die Dialoge seiner Filme ins Französische und ins Englische.

„Mommy“ erzählt vom Alltag der Mutter Diane und ihrem Sohn Steve. Die Mutter ist klar überfordert mit dem minderjährigen, hyperaktiven Jungen, der zu Gewaltausbrüchen neigt.

Die komplexe Beziehung eines Jungen zu seiner Mutter zieht sich wie ein roter Faden durch Dolans Filme und wird die Quintessenz seiner kinematografischen Arbeit.

Gefühle

Dolans fünfter Spielfilm lässt sich perfekt mit nur einem Wort beschreiben: Gefühle, die die ganze Palette der Emotionen umfassen. In einer Pressekonferenz bezeichnete Dolan Gus van Sant als eines seiner Vorbilder und lieferte auch gleich die Erklärung dazu: Seine Filme seien nicht einer bestimmten Form unterworfen … es gebe Abweichungen, die Emotionen hervorbrachten.

Dolan setzt sich im Film auch formal über allgemein gültige Regeln hinweg und setzt diese neuen Freiheiten optimal ein. Getragen von einem phänomenalen Trio (Mutter, Sohn und Nachbarin) reißt sein Film den Zuschauer mit Gewalt an sich und lässt ihn nicht mehr los.

Dolan soll, so kann man es immer wieder hören, ein arroganter Schnösel sein, dem es vor allem an etwas nicht fehlt: an übersteigertem Selbstbewusstsein.

Ein Preis für den Frankokanadier wäre durchaus berechtigt und stünde für eine Öffnung gegenüber einem jungen und erfrischend (scheinbar) impulsiven Kino, das sich wohlwollend gegen akademische Strömungen absetzt.

Quote oder Klassik?

Setzt die Jury jedoch eher auf die Quotenfrau, dann könnte Naomi Kawase eine Chance haben. Auch sie leidet nicht an mangelndem Selbstbewusstsein, ist sie doch angeblich nach Cannes gekommen, um nun endlich die goldene Palme mit nach Japan zu nehmen. Mit „Still the Water“ dürfte es allerdings nicht gelingen.

Sollte einmal mehr das akademische Kino belohnt werden, dann wäre der russische „Leviathan“ von Andrey Zvyagintsev ein möglicher Kandidat – eine moderne Version der Bibelgeschichte um den gottesfürchtigen Job, dem alles Leid der Welt wiederfährt. Schuld ist aber nicht Gott, sondern der russische Staat. Ein zynisches Drama um Korruption und gezielte Einschüchterungstaktiken.

In dieselbe Kategorie gehört auch „Winter Sleep“ von Nuri Bilge Ceylan, ähnlich bildgewaltig, doch mit mehr Gefühl.

Ein politisches Zeichen würde die Jury mit einem Preis für „Timbuktu“ setzen, ein Film, in dem der mauretanische Filmemacher Abderrahmane Sissako den religiösen Fundamentalismus analysiert.

„Deux jours, une nuit“

Ganz große Chancen rechnen sich aber auch die Dardenne-Brüder aus. „Deux jours, une nuit“ kam bei vielen Kritikern sehr gut an. Doch etwas wirklich Neues bieten die beiden Belgier diesmal nicht. Wie gehabt drehten sie ein Drama im halb-dokumentarischen Stil. Seit Jahren zeigen sie exklusiv hier in Cannes ihre neuesten Filme, in Venedig, Berlin, San Sebastián oder Locarno hat man sie noch nie gesehen. Warum auch, hier in Cannes haben sie ihr Publikum fest im Griff?

In die engere Auswahl für die Interpretationspreise kommen Timothy Spall in „Mr Turner“, Channing Tatum und/oder Steve Carell in „Foxcatcher“, Marion Cotillard für „Deux jours, une nuit“, Hilary Swank in „The Homesman“ oder, eher unwahrscheinlich, Julianne Moore in „Maps to the Stars“. Mike Leigh wäre ein quasi perfekter Kandidat für einen großen Preis oder Regiepreis für „Mr Turner“, während die Chancen für Ken Loach nicht ganz so gut stehen dürften.

Die 67. Edition wird als ein durchweg gutes Festival in Erinnerung bleiben, bei dem die wirklich interessanten und innovativen Filme in den Parallelsektionen programmiert waren.