Diktatoren des Alltags

Diktatoren des Alltags

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Am Freitagabend eröffnete „Ce que le dictateur n’a pas dit“ von Meriam Bousselmidas diesjährige Monodrama-Festival.

Das Stück der 1983in Tunis geborenen Autorin verarbeitet Illusionen und Enttäuschungen des Arabischen Frühlings aus der Perspektive eines namentlich nicht genannten Ex-Machthabers, geht aber weit darüber hinaus. Bousselmis Monodrama ist eine Kampfschriftfür Emanzipation, Mut und
Freiheit, die uns alle anspricht.

Am Montag (16.06.14): Tanz

quantum variations
von & mit Anu Sistonen um 20 Uhr in der Banannefabrik

Not about everything
von & mit Daniel Linehan um 20 Uhr in der Banannefabrik

Info und Tickets:
www.fundamental.lu
Mail: reservation@fundamental.lu
Tel.: (+352) 691 887 512

Steve Karier schimpft gerne über die angepasste, langweilige und genügsame Generation der heutigen Anfang Zwanzig- bis Mitte Dreißigjährigen. Besonders über jene hier bei uns, über ihr fehlendes politisches Bewusstsein, ihre Ideenlosigkeit und ihre Trägheit. Umso stärker ließ er sich für den Auftakt des diesjährigen Monodrama-Festivals von Meriam Bousselmi herausfordern, einer jungen Autorin und Regisseurin aus Tunesien, die selbst auf den Straßen von Tunis demonstrierte, nebenbei ihr Jurastudium abschloss und heute zu den bekanntesten Vertretern einer neuen Generation des arabischen Theaters zählt.

Freiheit und Verantwortung

Während sie bereits im letzten Jahr ihre „Truth Box“, eine Art öffentlicher Beichtstuhl, auf dem Monodrama-Festival präsentierte, ist ihr mit „Ce que le dictateur n’a pas dit“ nun ein mitreißender, subtil anklagender und humorvoller Monolog gelungen, in dem sie auf politischer, stärker aber noch auf philosophischer und psychologischer Ebene die Dimensionen einer Revolution reflektiert und große Themen wie Manipulation, Autorität und Freiheit behandelt. Die altgriechische Vorstellung des kairos, des zeitlich richtigen Momentes, den es zu ergreifen gilt, ist ebenso präsent wie Hegels subjektiver und objektiver Geist oder Jean-Paul Sartres Konzept von Freiheit und Verantwortung. Denn mehr noch als um die Revolutionen und Demokratiebestrebungen des Arabischen Frühlings geht es Bousselmi um die Diktatoren des Alltags in auch angeblich aufgeklärten, demokratisch legitimierten Gesellschaften. Um hierarchische Strukturen und festgefahrene Machtverhältnisse, um Autoritätshörigkeit, Mitläufertum und Manipulation. Um die Gefangenheit jedes Einzelnen, um Abhängigkeiten, ja um fremd-, vor allem aber selbstverschuldete Unmündigkeit.

„A combien de dictateurs avez-vous affaire au quotidien?“ lässt sie den Diktator sein Publikum fragen. Um dann zu schlussfolgern: „Vous êtes tous des dictateurs potentiels! Montez sur un siège et vous vous en apercevrez!“

Steve Karier mit seinen rot unterlaufenen Tränensäcken glänzt in der Rolle des alternden, weisen Diktators, der seinem Volk, dem Publikum, dieser Herde voller Affen, immer wieder den Spiegel vorhält. Er bewältigt die Textmasse ohne sehenswerte Schwierigkeiten und gibt dem starken Text ein glaubwürdiges Gesicht.

Dass das Monodrama-Festival mit solch einem engagierten Stück aufmacht, lässt auf eine spannende Ausgabe hoffen. Vor allem aber zeigt das Stück, dass Tunesien, das Vorreiterland des Arabischen Frühlings, einen wichtigen Schritt weitergekommen ist: Meriam Bousselmi als Vertreterin einer neuen arabischen Künstlergeneration holt die Politik in die Kunst zurück – Sie denkt mit künstlerischen Mitteln über Erfolge und Misserfolge der Revolutionen nach, erinnert an die Beschaffenheit des Menschen und schafft so die so wichtige Distanz zu kurzlebiger Euphorie. Von Enttäuschungen entleerte Begriffe wie Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung bekommen so ihre Wichtigkeit zurück. Der ausverkaufte Saal dankt es Autorin und Schauspieler mit tosendem Applaus.