/ Atemlos durch den Abend
Bis zum Ende hält der Zuschauer den Atem an und bis zum Ende halten Maurer und seine Schauspieler die Balance. Die Vorstellung glückt. Großer Applaus.
Helene Fischers Party und Verliebtheitshymne „Atemlos durch die Nacht“ dröhnt durch den Saal, am liebsten würde man mitwippen. Doch das geht nicht. Schließlich hat man den kleinen Chinesen im Blick, der am Verbluten ist, weil ihm gerade mit der Rohrzange ein Zahn gezogen wurde, von seinen Kollegen in der winzigen Küche des Thai-China-Vietnam Schnellrestaurants „Der Goldene Drache“.
Und dann ist da die Grille, die arme Grille, die schöne Grille, die bei den Ameisen Unterschlupf sucht und alles macht, alles aushält, um nicht zu verhungern. Sie wird gedemütigt, sie macht die schlanken, grazilen Beine breit, ihr wird ein Flügel ausgerissen. Das alles für ein Dach über dem Kopf. Da kann man doch nicht mitwippen. Wirklich nicht.
Grausam ehrlich
Illegale Einwanderung und Zwangsprostitution: Mit seinem Text „Der Goldene Drache“ legt der 1967 geborene Roland Schimmelpfennig den Finger in die Wunden unserer Zeit. Doch wie spricht man darüber? Wie lässt sich der moralisierende Zeigefinger vermeiden? Wie schafft man dennoch Empathie?
Schimmelpfennigs Text ist an vielen Stellen grausam ehrlich. Manchmal kaum auszuhalten, doch sobald die Gefahr besteht, dass man vor zu viel Betroffenheit abschweift, macht Schimmelpfennig Gebrauch von der ihm so eigenen Erzähltechnik des überraschenden Schnittes. Er zeigt immer nur kurze Ausschnitte aus den verschiedenen Leben seiner Figuren, von dem Liebespaar in der Dachwohnung zum Lebensmittelverkäufer, der plötzlich anfängt, zu weinen, dann zu den beiden Stewardessen in ihren dunkelblauen Röcken und immer wieder zurück zur Grille und natürlich zum kleinen Chinesen, in die Küche des Thai-China-Vietnam-Schnellrestaurants.
Die Inszenierung von Stefan Maurer setzt bei dieser Schnitttechnik an und reizt sie mit den Mitteln der Regie weiter aus. Mit gut gesetzten Brüchen und Tempowechseln führt er die Zuschauer in die verschiedenen Etagen eines Gebäudes irgendwo in Europa. Ein kurzer Kostümwechsel, ein anderer Schuh etwa, ein roter Lippenstiftstrich oder eine Sonnenbrille reichen aus, um von einer Situation in die nächste zu wechseln, um Atmosphären zu brechen und neue Stimmungen zuzulassen.
Die fünf Schauspieler, die auf der Bühne agieren, spielen neben den fünf Asiaten in der Küche des Thai-China-Vietnam-Schnellrestaurants so auch alle anderen Figuren. Es geht wild durcheinander. Jung spielt alt, Mann spielt Frau, Mensch spielt Tier. Hektisches Küchenchaos folgt auf einen andächtigen Monolog, dann Streit eines Pärchens, das Gespräch zwischen den Stewardessen, die Grille und der kleine Chinese, der mittlerweile schon völlig blass geworden ist.
Präzise unaufgeregt
Die Schauspieler sind alle überzeugend und ziehen bei den raschen Wechseln konsequent mit. Absolut großartig ist Catherine Janke, die neben anderen Figuren, dem Mann im gestreiften Hemd etwa, vor allem den kleinen Chinesen spielt. Durch ihre präzise Darstellung und ihre unaufgeregte Stimme gibt sie der Figur eine große Emotionalität. Sie berührt, wenn sie vor Schmerzen schreit, wenn sie sich auf dem Küchentisch windet, wenn sie blutarm umherwankt und wenn sie letztendlich als toter kleiner Chinese, von ihrem Weg zurück in die weite Heimat erzählt. Wenn man nach diesen Bildern nach Hause geht, dann hat man ihn dabei, den kleinen Chinesen, der nach Europa gekommen ist, um zu arbeiten und seine Schwester zu suchen. Er lässt einen nicht mehr los, der kleine Chinese. Da ist wohl gerade ein großer Theaterabend zu Ende gegangen.
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