Orgasmus statt Botox

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In der Netflix-Serie „Grace and Frankie“ werden Tabus gebrochen und altbackene Konstrukte hinterfragt.

Mittlerweile läuft die dritte Staffel der Netflix-Serie „Grace and Frankie“, bei der zwei Frauen über 70 im Vordergrund stehen. Alte Kamellen werden hier allerdings keine gekaut.

Obwohl jeden Tag neue Produkte den Markt überschwemmen, die ewige Jugend versprechen, sollte langsam, aber sicher klar sein, dass dieser Traum längst ausgeträumt ist. Wer sich dieser Hoffnung trotzdem immer noch hingibt, wird irgendwann an seiner ihn wie Frischhaltefolie umhüllenden Illusion ersticken.

Wer den Gedanken an das Altern seiner selbst oder jenes seiner Mitmenschen jedoch zulässt, kann dies sogar gesundheitsfördernd und lachend tun, indem er (oder sie!) sich die Netflix-Serie „Grace and Frankie“ zu genau diesem Thema ansieht. Denn es ist Marta Kauffman (Friends) und Howard J. Morris gelungen, Risiken und Nebenwirkungen des Älterwerdens ehrlich und mit einem herrlich entkrampfenden Humor auf die Bildschirme zu bringen.

„Alter schützt vor Liebe nicht, aber Liebe vor dem Altern“ heißt es im Volksmund. Dieser Spruch bekommt bei „Grace and Frankie“ spätestens nach der ersten halben Stunde der ersten Folge einen teils süßen, aber ebenso bitteren Nachgeschmack. Denn die US-amerikanische Serie beginnt damit, dass Grace (Jane Fonda), die sich ihr aufgesetztes, faltenfreies Lächeln vor vielen Jahren für noch viel mehr Geld ins Gesicht reinoperieren ließ, und die etwas schrullige Möchtegern-Anarchistin Frankie (Lily Tomlin) von ihren Gatten Robert (Martin Scheen) und Sol (Sam Waterston) erfahren, dass sich diese nicht nur scheiden lassen, sondern danach auch heiraten wollen.

Was bleibt übrig

Die beiden über 70-jährigen Herren, die seit Jahrzehnten gemeinsam eine Anwaltskanzlei führen (die ironischerweise auf Scheidungen spezialisiert ist), hatten ausreichend Zeit, um sich auf diesen Moment, der alles verändern wird, vorzubereiten, denn sie gestehen ihren Noch-Ehefrauen ebenfalls, dass sie bereits seit 20 Jahren eine Affäre miteinander haben.
Das, was die Frauen für gesichert und gegeben hielten, fällt nicht nur wie ein Kartenhaus in sich zusammen, sondern wird kurzerhand mit einer luxuriöseren Handgranate in die Luft gesprengt. Von einem Moment auf den anderen müssen sie sich fragen, welches Leben sie in den letzten zwei Jahrzehnten geführt haben und was davon übrig bleibt.

Um sich dieser unerwarteten Tatsache psychisch zu nähern, jedoch gleichzeitig physisch Distanz zu ihren langjährigen Partnern zu gewinnen, bleibt beiden Frauen, die sich überdies nicht leiden können, nichts anderes übrig, als in jenem Strandhaus zu wohnen, das beiden Familien gehört, obgleich sich schnell herausstellen wird, dass das kleine Anwesen eigentlich von den beiden „Arbeitskollegen“ gekauft wurde, um sich heimlich dort zu treffen.

Jane Fonda und Lily Tomlin in der Netflix Original Serie „Grace and Frankie“. Foto: Melissa Moseley / Netflix.

So unterschiedlich die Frauen auch sind, so unterschiedlich war auch die jeweilige Ehe, und damit verläuft auch der Verarbeitungsprozess auf grundverschiedenen Ebenen. Im schönen Haus am Meer stößt Esotherik auf Glamour. Handgestreicheltes Obst auf das Hauptnahrungsmittel Martini. Während Frankie und Sol noch eine innigliche Freundschaft verband, war die Beziehung zwischen Grace und Robert von Reserviertheit und kompensatorischem Verhalten auf materieller Ebene geprägt. Den Zuschauer erwartet also ein viel- (Ärger) versprechendes Kontrastprogramm, denn trautes Beisammensein sieht beileibe anders aus.

Good Vibrations

Anfänglich sind Grace und Frankie gemeinsam einsam. Es beginnt ein Hindernislauf, bei dem sich die beiden Hauptdarstellerinnen zunächst vor allem gegenseitig infrage stellen. Bevor langsam, aber sicher ein Prozess der Autoreflexion und Selbstkritik einsetzt. Umso besser sie sich kennen lernen, umso mehr lernen sie voneinander, obwohl dies quasi täglich kleinere oder auch größere, aber stets unterhaltsame Zusammenstöße voraussetzt.

Die Netflix-Serie, die 2015 erstmalig ausgestrahlt wurde, wird als Komödie ausgeschildert. Die Themenwahl erzeugt indes oftmals tragikomische, gar dramatische Momente. Einerseits geht es natürlich um neu gewonnene, aber auch um aufgezwungene Autonomie im Alter, um Alterserscheinungen, die ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr nur schleichend daherkommen. Um Bandscheibenvorfälle, Demenz und akute Sehschwächen.
Andererseits stehen aber auch altersübergreifende (Selbst-)Lügen, (Sehn-)Süchte und kaputte zwischenmenschliche Beziehungen im Fokus. Vor allem spielt auch die Liebe ein Rolle, ihre Abwesenheit, ihre Endlichkeit sowie ihre Käuflichkeit. Und die Art, wie über sie (nicht) kommuniziert wird.

Darüber hinaus kommt die Familie, oder besser gesagt das „Konstrukt Familie“ ins Spiel. Frankie und Sol verhätscheln ihre erwachsenen Söhne total. Zwischen Grace und ihren Töchtern herrscht hingegen eine kühle Distanz, die so weit geht, dass die jüngere von beiden quasi dauergebärend versucht, eine Grundlage zu schaffen, um es besser zu machen als ihre eigenen Eltern.

Die Serie bricht Tabus

Gleichwohl sind Themen wie Sexualität, sexuelle Identität und Körperlichkeit im Alter von Relevanz. Das Spektrum beschränkt sich nicht auf späte Outings, sondern es wird auch explizit über die Libido älterer Menschen gesprochen. Daher dreht die gesamte dritte Staffel um jenen Vibrator, den Grace und Frankie für ältere Frauen entworfen haben, die beispielsweise an Arthrose leiden. Dieser ist unter anderem deswegen nicht einfach auf den Markt zu bringen, weil ihre Gesuche für Kredite abgelehnt werden, da man vielerorts annimmt, dass sie das Ende der Abzahlung eventuell nicht überleben.

Die Zeit sprach dieses Jahres von einer „Altersparade“ bei Netflix, bei der sich zusehends auf Silver Surfer eingestellt werde. Die Autorin dieses Artikels ist 30 und findet absolut nicht, dass „Grace and Frankie“ nur für ein älteres Publikum geeignet ist. Durch die vielfältigen gezeigten zwischenmenschlichen Verflechtungen wird ersichtlich, warum derartige Themen nie nur eine Person, sondern auch ihr Umfeld betreffen. Die Serie bricht Tabus, die längst keine mehr sein dürften, und altbackene Konstrukte werden hinterfragt.

Vor allem hält eine Thematik, die mainstreamiger nicht sein könnte (denn die alternde Bevölkerung stellt absolut keine Minderheit dar) endlich Einkehr in eine Mainstream-Serie. Trotz einer gewissen Tragik wird der Humor zur Hilfe genommen, nicht um Probleme zu belächeln, sondern um sich gegen sie zu wappnen und sie anzupacken.