Mythologie einer entgötterten Welt

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Shadow Moon, dem Namen nach Sohn einer Hippie-Mutter, Ex-Sträfling und Protagonist von Bryan Fullers („Star Trek: Discovery“, „Hannibal“) Serienadaptation von Neil Gaimans Roman „American Gods“, wird in der ersten Folge zwei Tage früher aus dem Gefängnis entlassen als geplant, damit er dem Begräbnis seiner Ehefrau beiwohnen kann. Was sich daran anschließt, ist ein Roadtrip durch die USA, bei dem Begegnungen mit Göttern und Untoten noch fast die harmlosesten Ereignisse sind.

Von unserem Korrespondenten Tom Haas

Wer ein Jobangebot von Odin ausschlägt und sich im Anschluss mit einem irischen Kobold in einer Bar im amerikanischen Mid-West prügelt, der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Dessen zumindest ist Shadow sich sicher, der im Zuge der Serie eine fortgeschrittene Realitätsverweigerung entwickelt – einfach weil die ihn umgebende Realität so unglaubwürdig ist, dass der Typ mit dem Kreuz und dem dreitägigen Tod dagegen geradezu plausibel erscheint.

Shadow gerät nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in einen Strudel aus seltsamen Ereignissen, als er sich mangels anderer Perspektiven einem gewissen Mr. Wednesday gegenüber verpflichtet, ihn bei seinen Reisen zu begleiten. Mr. Wednesday ist niemand Geringeres als Odin, der alte skandinavische Göttervater, der in einem Anfall göttlichen Pathos die verstreuten Mitglieder aller Pantheons einsammelt, um in eine endzeitliche Schlacht gegen die Neuen Götter zu ziehen. So weit der Plot.

Die Neuen Götter

Neben der gelungenen Besetzung und dem visuellen Anspruch sind die Neuen Götter das erste inhaltliche Faszinosum der Serie – Media, die Personifizierung des Fernsehens, der Technical Boy, ein schnell redender, aufgedrehter, selbstherrlicher Teenager als Verkörperung des Internets, und Mr. World, der fleischgewordene Hinterzimmer-Weltbeherrscher aus jeder guten Verschwörungstheorie.

Die Serie hält sich nicht lange mit der Mystifikation auf – scheibchenweise entlarvt sie die Rituale der vermeintlich weltgewandten und aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts als kaum weniger archaisch als die germanischen Blutopfer. Ob wir nun in der Kirche oder vor dem Fernseher nebeneinander sitzen und uns anschweigen, das Augenmerk ist auf das Jenseits gerichtet. Es ist egal, ob dieses Jenseits nun religiös verklärt oder offen fiktional ist – beides ist Projektionsfläche für die Wünsche, Träume und Hoffnungen seiner Anhänger.
Macht wird den Göttern durch die Anzahl und das Engagement ihrer Jünger zuteil – sie opfern ihnen Zeit und Aufmerksamkeit. Die neuen Götter streben nun die Ökonomisierung des Glaubens an, die Nutzbarmachung der Energie ist ihre Priorität, das Werkzeug ihrer Wahl die Täuschung und der Idealzustand eine absolute Ordnung, in der jeder Gott – auch die alten Götter – einen Platz finden, der sie für den Menschen konsumierbar macht. Denn die alten Götter sind für sie immer noch eine Bedrohung.

Die Macht des Irrationalen

Odin stellt sich diesen Absichten entgegen und erntet zunächst nur Hohn. Es wird jedoch rasch ersichtlich, dass die Widerspenstigkeit des Alten die neuen Götter vor allem deshalb erzürnt, weil sie es nicht verstehen – sie bieten ihm Ruhm und Komfort in ihrem System und er spuckt ihnen vor die Füße und schreitet zur Rebellion, die förmlich zum Scheitern verurteilt scheint. Diese Devianz entbehrt der instrumentellen Vernunft, welche die aufgeklärten Götter als Ordnungsprinzip vorgesehen haben – es ist völlig unlogisch, ins eigene Verderben zu laufen, wenn die andere Wahl einen bequemen Ausweg bereit hält.

Sowohl Fuller als auch Gaiman schlagen an dieser Stelle, vielleicht unbeabsichtigt, in die Kerbe, die Horkheimer und Adorno mit „Die Dialektik der Aufklärung“ überschrieben haben, allerdings stellen sie der entfesselten Vernunft des Homo Oeconomicus, dessen Moral dort endet, wo er den eigenen Vorteil gefährdet sieht, eben nicht die kritische Vernunft gegenüber, sondern die irrationalen Werte des Archaischen. Odins List ist so auch eine andere als die des Odysseus.

Die Mythologie als Kompass des Alltags

Letztgenannter trickst die mythologischen Kreaturen und Gottheiten aus, um den Weg zurück ins beruhigte und patriarchale Gefüge zu finden, während der germanische Göttervater sehenden Auges und mit großer Lust die Möglichkeit der vollständigen Vernichtung über das stumpfsinnige Funktionieren stellt. Er ähnelt dann auch mehr der Figur des Waldgängers bei Ernst Jünger, dem entfremdeten Anarchisten, als der des Helden und Menschenretters.

Die Sympathie des Zuschauers sichert er sich durch seinen Status als schlitzohriger Underdog, nicht durch seinen moralisch einwandfreien Charakter. Ein solches Bild entbehrt natürlich nicht einer gewissen Gefahr – der germanische Gott ist als Figur durch seine Position gegenüber Ordnung und Ratio und sein Männlichkeitsideal von Ehre und Treue durchaus anschlussfähig an regressive Weltbilder. Doch der Kampf zwischen den Göttern in „American Gods“ ist notgedrungen ein Kampf der Extremen – kein Pantheon der Welt beinhaltet eine Figur, die im Zeichen von Zurückhaltung, Selbstreflexion und kritischem Denken steht. Diese Qualitäten sind bei Göttern aus guten Gründen nicht en vogue, denn mit ihnen lassen sich keine spannenden, dramatischen Geschichten erzählen.

An dieser Stelle sollte der Zuschauer sich einhaken. Denn Geschichte und Geschichten konstituieren als Narration jene Mythen, mit denen wir uns tagtäglich umgeben und die bestimmen, was wir glauben und wie wir handeln. Die Verschwörungstheorie und die Religion sind genauso Narrative wie die Relativitätstheorie.

Das Paradigma der Wissenschaft, das unsere Zeit bestimmt, zeigt schon erste Risse. Wenn die Neuen Götter uns Ordnung versprechen und die Alten Götter mit Ruhm und Ehre locken, dann sollten wir uns vielleicht in der Mitte halten und uns keiner Seite zu sehr zuneigen.

Natürlich liegen Wissen und Erkenntnis in der aufgeklärten, entzauberten und systematisierten Welt, aber genauso finden wir es auch in alten Liedern und Geschichten. Und bisweilen sogar in amerikanische Fernsehserien.