Literatur macht aus Bildern Geschichten

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Edward Hopper zählt zu den führenden Malern des Amerikanischen Realismus. Lawrence Block versammelt Schriftsteller, die sich von seinen Bildern inspirieren ließen. Zu den Autoren, die für seine Sammlung Kurzgeschichten geschrieben haben, gehören auch Joyce Carol Oates und Stephen King.

Von unserem Korrespondenten Roland Mischke

Am Fenster einer Wohnung in New York sitzt eine nackte Frau. Sie hat nur schwarze Schuhe an den Füßen, ihr Gesicht ist vom langen Braunhaar verdeckt, mit einem Ellenbogen stützt sie sich auf dem rechten Oberschenkel ab. Sie hockt im Polster eines blauen Sessels, weshalb ihre weiße Haut als Kontrast zum Zimmer mit dezent bunten Möbeln bleich leuchtet. Den Vorhang am Fenster hat sie ganz weit zurückgezogen. Die Frau schaut gedankenverloren auf die Straße, es scheint ihr nichts auszumachen, dass andere sie sehen können. Wartet sie auf jemanden? Ist sie einsam, enttäuscht, traurig? Betrachter des Bildes „Eleven A.M.“ von Edward Hopper, das er 1926 mit Ölfarben auf eine Leinwand pinselte, können nur raten.

„Die Frau am Fenster“

Das war des Malers Absicht. Hoppers Trick ist, dass man das Gesicht der Frau nicht sehen kann. Ihre Haltung ist leicht angespannt, das setzt Überlegungen frei. Und überhaupt, warum setzt sich eine Frau kleiderlos ans offene Fenster? Die vielen Menschen, die dieses Gemälde gesehen haben, werden sich gefragt haben, was da los ist.

Zu ihnen gehörte auch die Schriftstellerin Joyce Carol Oates. Zum Hopper-Bild hat sie eine Kurzgeschichte verfasst: „Die Frau am Fenster“. Man merkt sofort, dass Oates’ Fantasie aufs Äußerste angeregt war. In ihrer Geschichte gibt sie der Frau keinen Namen, macht sie aber zur Geliebten eines verheirateten Mannes, der sie aushält. Er zahlt den größten Teil der Wohnungsmiete, kommt und geht, wie er will, versetzt die Frau oft, lässt sie endlos warten. Auch darauf, ob er sich von seiner Ehefrau trennen und zu ihr überlaufen wird. Oates’ Figur ist empört, wütend, Hass hat sich angestaut. In der Geschichte hat sie unter dem Sitzkissen des Sessels eine Nähschere versteckt. Was hat sie vor, sollte der Mann plötzlich auftauchen?

Bilder nach Gemälden

„Nighthawks“, Nachtschwärmer, ist das Buch betitelt, das der Schriftsteller Lawrence Block herausgegeben hat. Es ist eine Sammlung von Kurzgeschichten über seine Kollegen, die sich von Bildern Edward Hoppers inspirieren ließen. „Stories nach Gemälden von Edward Hopper“, heißt es treffend im Titel. Block hatte die Autoren angeschrieben, 16 davon lieferten ihre Geschichten. Hopper (1882-1967) gehört zu den Meistern der bildenden Kunst in den USA des 20. Jahrhunderts. Er prägte den sogenannten Amerikanischen Realismus und gilt als Gesellschaftschronist, der genau hinschaute in seiner Wahlheimatstadt New York. Er sah einsame Menschen, die ohne Liebe waren. Er bannte die schalen Tragödien des Alltags auf die Leinwand. Jedes seiner Bilder enthält über das zu Sehende hinaus eine Aussage, mitunter eine Provokation.

Auch Stephen King von Hopper inspiriert

Das wirkt nach wie vor. Stephen King, schon lange erklärter Hopper-Fan, schrieb. Andere Autoren sind Lee Child, Jeffery Deaver, Megan Abbott, Nicholas Christopher, Craig Ferguson, Warren Moore und Michael Connelly. Es geht darin meistens um Themen wie Lüge, Verrat, Kriminalität und Mord. Viele sind eben Krimiautoren. Stark ist die Erzählung „Nighthawks“ von Michael Connelly, in der die bemerkenswerte Unterhaltung einer Frau und eines Mannes zu Hoppers Bildern geschildert wird. Sie fragt: „Was glauben Sie, was für eine Geschichte steckt dahinter?“ Er: „Wie kommen Sie darauf, dass es eine Geschichte gibt?“ Sie: „Es gibt immer eine Geschichte. Malen heißt Geschichten erzählen.“

Zu jeder Story ist das dazugehörige Bild von Hopper zu sehen. Es ist erstaunlich, wie nahe uns diese Menschen kommen, die Hopper in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts malte. Er überlässt alles den Gedankenströmen der Betrachter. Edward Hopper ist nicht nur für Literaten anregend.

Lawrence Block: „Nighthawks. Stories nach Gemälden von Edward Hopper.“ Aus dem Englischen von Frauke Czwikla. Droemer Knaur, München, 320 S., 29,99 Euro