Klangwelten: Von komischen Früchten und harten Schalen

Klangwelten: Von komischen Früchten und harten Schalen

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In unserer Rubrik Klangwelten werden regelmäßig Alben rezensiert. Unsere Musikspezialisten haben sich diese Woche die neuesten Alben von Zeal & Ardour, Madsen, Kanye West und Mike Shinoda angehört. 


The Strangest Fruit

von Jeff Schinker

Bereits zum zweiten Mal kombinieren Zeal & Ardour Black Metal mit Blues und Gospel. „Stranger Fruit“ ist fokussierter, länger und besser produziert als der Vorgänger – weswegen die Platte auch ohne den Überraschungseffekt des Erstlingswerks überzeugen kann.

Als der Schweizer Manuel Gagneux vor etwas mehr als einem Jahr mit „Devil Is Fine“ die Metalszene mit seiner Mischung aus lupenreinem Blues, Black Metal und Gospel aufmischte, war dies ein sehr willkommener Bruch innerhalb eines Genres, das oft zu sehr an seinen Traditionen festhält. Was jetzt auf dem Papier bestenfalls wie die verschrobene Idee eines Exzentrikers klingt – der Entstehungsmythos von Zeal & Ardor will, dass Gagneux sich dieses Projektes annahm, weil jemand ihn auf einer Online-Plattform aufforderte, schwarzen Sklaverei-Blues und Black Metal zu vermischen –, klingt in seiner musikalischen Umsetzung schlicht grandios – und man fragt sich, wieso nicht schon viel früher jemand auf die Idee kam, diesen etwas ketzerischen Stil-Hybriden zu wagen. Egal, wie toll und überraschend das Debüt dann auch war: Es haperte ein klein wenig an der etwas unpräzisen Produktion. Außerdem war die Platte relativ kurz und wirkte etwas orientierungslos.

„Stranger Fruit“ ist fokussierter, besser produziert und länger, das Songwriting bleibt nach wie vor ausgefeilt und Gagneux’ gesangliche Leistung pendelt stets zwischen den rauen Harmonien der Blues-Gospel-Teile und dem Gekeife der Black-Metal-Parts, in die die Songs stets zu kippen drohen. Die Platte beginnt sehr stark mit „Gravedigger’s Chant“, das mit seinem Klavier etwas Pop-Appeal hat und das Album eher ruhig einleitet, bevor es dann mit „Servants“ und „Don’t You Dare“ lauter, aber stets eingängig weitergeht.

Tracks wie „Row, Row“ und „You Ain’t Coming Back“ wären ohne die lauten Black-Metal-Parts schon fast im guten Sinne des Wortes radiotauglich, teilweise fühlt man sich an „The Earth Will Shake“ von Thrice erinnert. Songs wie „We Can’t Be Found“ mit seinem an System Of A Down erinnernden Gitarren-Riff und seinem Call-Reponse-Anfang zeigen, wie vielfältig das Projekt trotz seiner stilistischen Einschränkungen ist. Vielleicht fällt das Album mit 16 Tracks etwas zu lang aus – aber da „Stranger Fruit“ quasi keine Füller aufweist, lässt man Gagneux gerne Zeit, seine Ideen zu entfalten.

ANSPIELTIPPS: Gravedigger’s Chant, Row Row


Harte Schale, sehr weicher Kern

von Olivier Seifert

Die deutsche Band Madsen trägt immer noch viel Wut und Verzweiflung mit sich herum, den Eindruck erwecken zumindest die 13 neuen Songs, wenn sie laut, energisch, rüpelig, aber stets mit Hang zum hymnischen Gestus das Rockinstrumentarium einsetzen. Sänger und Texter Sebastian Madsen barmt und kreischt von Sorgen und Nöten wie in den wild-wuschigen Tagen seiner Post-Adoleszenz. Dabei gehen die Madsens im echten Leben stramm auf die 40.

Ihre Songs allerdings haben eine fundamentale Form-Inhalt-Diskrepanz: einerseits die Wucht des kernigen Musikmischmaschs aus Rock, Metal und Punk, andererseits die verschnarcht belanglose, allzu abstrakte Befindlichkeitslyrik der Texte. Wenn also „Rückenwind“ oder „Kapitän“ garstig-düsterer Metal durchfegt, singt Sebastian Madsen vom Fernweh und unerreichbaren Zielen, vom Schiff ohne Segel auf offenem Meer und der Sehnsucht, der das Leben hintertreibt. Wenn sich in „Ein paar Runden“ Punkrock breitmacht, ist von leisen, unbemerkten Unternehmungen fern von Partys die Rede. Immerhin, in „Keiner“ wird gegen die Klick- und Like-Internetkultur gemeckert – konkreter, zielgerichteter wird der Furor nicht mehr.

Der einstmals postulierte „Stadionrock mit Augenzwinkern“, in den besseren Momenten mehr Thees Uhlmann/Tomte oder Die Ärzte, in den schlechteren Momenten mehr Scorpions oder U2, verirrt sich leider allzu oft im sentimentalen Blablabla biederer, schiefer Verse: Mal ist die Welt zu groß, mal zu weit, mal steht die Zeit still oder ist die Luft raus, mal regiert das Herz oder stürzt der Kopf ein. Wurde in „Graue Welt“ vom Vorgängeralbum „Kompass“ schon rührig betont: „Du bist nicht allein“, so wird der Hinweis nun in „Wenn alles zerbricht“ noch einmal wiederholt. Man kann ja nie wissen.

Überzeugende, praktische Argumente für „Lichtjahre“ liefert die limitierte CD-Deluxe-Box mit: ein Schneidebrett aus Holz und ein Kochbuch. Es gibt Rezepte für Gerichte wie Rehrücken oder asiatischen Schweinebauch. Keine Ahnung, warum Madsen nun ausgerechnet ihre diffuse Wut an Tieren auslassen. Trotzdem lecker.

ANSPIELTIPPS: Sommerferien, Keiner, Ich tanze mit mir allein


 

Musik als Therapiesession

von Laura Giacomini

Ursprünglich war diese Doppelreview mit „Rap als Therapie“ betitelt. Dies träfe auf Kanye Wests „Ye“, jedoch nicht vollends auf Mike Shinodas „Post Traumatic“ zu. Beide Musiker sind in erster Linie Rapper und in hohem Maße in ihr künstlerisches Schaffen eingebunden. Beide Alben sind nach schweren Lebenskrisen entstanden.

Bei Kanye West ist eine psychologische Erkrankung das Hauptthema. „Ye“ soll das Chaos in seinem Kopf illustrieren. Chaotisch ist das Ganze durchaus, aber nicht im positiven Sinne. „Yikes“ sticht mit einem guten Beat und Refrain hervor, enttäuscht jedoch u.a. mit geistigen Ergüssen wie „I like your titties, cause they prove I can focus on two things at once“.

Ansprechende Harmonien und Vocals gibt es bei „Wouldn’t Leave“. Aber auch hier überzeugt Kanyes Rap nicht wirklich; das Ganze wirkt flach und fast langweilig. Ähnliches Szenario bei „No Mistakes“: Charlie Wilsons Gesang ist top – nur bin ich kein Fan von Refrains, die aus dem Wiederholen einer einzigen Zeile bestehen.

„Ghost Town“ klingt wie eine zu stark dosierte Einschlafpille, die Albträume verursacht. „Violent Crimes“ hingegen zeugt wieder von einem guten Ansatz, aber einer schlechten Umsetzung.

Müsste ich „Ye“ in einem kurzen Satz zusammenfassen, würde mir als Erstes „Nichts Memorables“ einfallen. Gut sind die Parts der Gastsänger, Kanyes eigene Leistung bleibt für mich jedoch überschaubar. Besonders enttäuschend ist jedoch die Diskrepanz zwischen dem Hype um ihn und dem, was „Yeezus“ tatsächlich lyrisch und musikalisch zu bieten hat.

„Post Traumatic“ ist nach dem Tod von Mike Shinodas bestem Freund, Linkin-Park-Sänger und -Frontmann Chester Bennington, entstanden. Bei „Over Again“ tut Mike das, was er meines Erachtens am besten kann: Rappen. Während er häufig auf eine Mischung zwischen Sprechgesang und herkömmlichem Gesang zurückgreift, spittet er sich hier wie in guten Fort-Minor-Zeiten (dem Hip-Hop-Projekt des Künstlers) die Seele aus dem Leib.

Alle Tracks sind sauber produziert und wechseln zwischen elektronisch-atmosphärischen und klassisch Hip-Hop-orientierten Instrumentals hin und her. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass Mike von manchen Experimenten lieber die Finger gelassen haben sollte.

Im Vergleich mit „Ye“ habe ich bei „Post Traumatic“ jedoch eher das Gefühl, ein persönliches Album zu hören. Lyrisch bieten beide nichts Besonderes, wobei Mike Shinoda authentischer wirkt. Fans von Trap und dieser Halb-Rap-halb-Gesang-Mischung, die sich zurzeit breitmacht, wird „Post Traumatic“ gefallen, meins ist es jedoch nicht. Der Tod von Chester hat auch musikalisch seine Spuren hinterlassen: Mike wirkt solo zeitweise verloren.

Vor allem aber habe ich bei den Alben das Gefühl, dass keines der beiden wirklich in die Tiefe geht. Trotz des Mutes, den die Künstler mit ihren aktuellen Veröffentlichungen bewiesen haben, schwimmt Mike – mit einigen Ausnahmen – größtenteils an der Oberfläche und Kanye kratzt höchstens daran.

ANSPIELTIPP: No Mistakes