Klangwelten: Diese Tracks sind nur was für Ausgeschlafene

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Painted from a bedroom

ELVIS COSTELLO & THE IMPOSTERS – Look Now

Das erste Album von Elvis Costello seit fünf Jahren ist eine seiner besten Platten überhaupt geworden. Es erinnert, was die opulente Orchestrierung angeht, phasenweise an „Imperial Bedroom“, sein Hauptwerk aus den 80er-Jahren, knüpft in puncto Melodienfülle aber auch an die Balladensammlung „Painted From Memory“ an, die er 1998 mit dem großen Burt Bacharach zusammen einspielte. Doch in diesem Album steckt noch viel mehr! Die 90-jährige Komponisten-Legende Bacharach saß bei zwei Stücken am Klavier und hat auch einige Songs mitgeschrieben, dennoch ist „Look Now“ in erster Linie ein Elvis-Costello-Werk. Der 64-jährige Engländer, der noch im Juni seine Europa-Tournee unterbrechen musste, um sich einer Krebs-Operation zu unterziehen, legt hier mit einer solchen Wucht und Euphorie los, dass man als ahnungsloser Hörer erst mal nicht weiß, wie einem geschieht.

Bereits im ersten Song „Under Lime“ fährt er Holz- und Blechbläser auf, spielt elektrische sowie sechs- und zwölfsaitige akustische Gitarren, schmettert das Vibraphon und hat tolle Backing Vocals arrangiert. Die Ideen scheinen aus dem Mann mit der Hornbrille nur so herauszusprudeln. Doch wer annimmt, dies sei Kunst um der Kunst willen, hat sich getäuscht. Alles ist so genial konzipiert, arrangiert und abgemischt, dass sämtliche musikalischen Akzente zur Geltung kommen, ohne dass der Track überladen wirkt. Im Gegenteil: Costello lässt auch seiner Begleitband – allen voran Steve Nieve am Piano – Raum, sich in dieses mitreißende Stück Musik einzubringen. Mein lieber Scholli, das nenne ich einen Auftakt!

Es folgt eine gefühlvolle Bacharach-Nummer, in der unser geliebter Declan Patrick MacManus den Crooner gibt, dem wir jede Sekunde Pathos und Herzschmerz abkaufen. Dann kommt „Burnt Sugar Is So Bitter“, das Carole King mitkomponiert hat und das Costello noch abgedrehter arrangiert hat als den Eröffnungssong. Costello und Nieve experimentieren anschließend bei einigen Liedern mit einer Celesta, einem Mellotron, einer Hammondorgel und einem Fender Rhodes herum, die bei den Aufnahmen vermutlich irgendwo in den kalifornischen EastWest-Studios herumstanden, und stets passen die Sounds zur Stimmung des jeweiligen Songs.

Am Ende holt Costello, der offenbar auf der Höhe seiner Schaffenskraft angekommen ist, dann zu einem weiteren großen Coup aus: Er hat Streicherarrangements für ein zehnköpfiges Orchester geschrieben (das wie ein 20-köpfiges klingt) und das er auch selbst dirigiert. Mit diesem Ensemble gibt er drei symphonische, vom Soul der 60er-Jahre geprägte Liebesdramen zum Besten. Dabei sticht das unwiderstehliche „Suspect My Tears“ besonders hervor, das der Mann unbedingt mal (zusammen mit Material vom „North“-Album) mit dem OPL in der Philharmonie aufführen sollte – Träumen wird ja noch erlaubt sein!

Ich behaupte: Alle zwölf Songs auf dieser Produktion sind klasse und so deklariere ich „Look Now“ zu meinem persönlichen Elvis-Costello-Lieblingsalbum. Gil Max

RATING: 9/10
ANSPIELTIPPS: Under Lime, Burnt Sugar Is So Bitter, Suspect My Tears

 

Wo bleibt die Innovation?   

TOM MORELLO – The Atlas Underground

Tom Morello ist ein ausgezeichneter Gitarrist. Das hat er in der Vergangenheit in der phänomenalen Band Rage Against The Machine, bei Audioslave (mit dem ehemaligen Soundgarden-Sänger Chris Cornell), bei The Nightwatchman, dem Hip-Hop-Rock-Projekt Prophets Of Rage bewiesen. Er ist auch auf zwei Alben von Bruce Springsteen zu hören: „Wrecking Ball“ (2012) und „High Hopes“ (2014). Mehr oder weniger blieb er dem Rock – oder im Fall von The Nightwatchman dem Irish Folk – bis dato immer treu.

Doch für sein Solodebüt „The Atlas Underground“ hat sich der 54-Jährige etwas Neues ausgedacht. Er schrieb die Songs nicht alleine, sondern mit teils prominenten Kollegen, die dann auch in den Songs gastieren. Zu diesen zählen u.a. Marcus Mumford (Mumford & Sons), Portugal. The Man, die Wu-Tang-Clan-Mitglieder RZA und GZA, Big Boi von Outkast, Killer Mike (Run The Jewels), Tim McIlrath (Rise Against) und – bitte festhalten – der Electro/House-DJ und -Produzent Steve Aoki. „Die Riffs und Beats haben auf gewisse Weise den stilistischen Weg vorgezeichnet; doch das unglaubliche Talent jedes einzelnen meiner Gäste konnte meine Kreativität noch einmal zusätzlich beflügeln. Ich war schon immer ein leidenschaftlicher Musiker“, sagte Morello über sein Album (Quelle: Warner Music).

Es mag sehr kreativ gewesen sein, zu diesen für ihn ungewohnten EDM-Songs Gitarre zu spielen – wobei in „Every Step That I Take“ (mit Portugal. The Man und Whethan) über weite Strecken gar keine Gitarre zu hören ist. Kreativität alleine reicht beileibe nicht. Wo bleiben die erwähnte Leidenschaft und die Innovation? Wo sind die Songs mit Aha-Effekt?
Die sind auf diesem enttäuschenden Album rar gesät. „Rabbit’s Revenge“ (mit Bassnectar, Big Boi und Killer Mike) zählt mit „Lucky One“ (K.Flay), „Vigilante Nocturno“ (Carl Restivo) und „Lead Poisoning“ (GZA, RZA und Herobust) zu den wenigen relativ positiven Momenten. Über den Rest, etwa den EDM-meets-Red-Hot-Chili-Peppers-Song „Battle Sirens“ (Knife Party) und das völlig miserable „We Don’t Need You“, werfen wir schnell den Mantel des Schweigens. Kai Florian Becker

RATING: 3/10
ANSPIELTIPPS: Rabbit’s Revenge, Vigilante Nocturno, Lead Poisoning

Ich liebe dich!

PETER LICHT – Wenn wir alle anders sind

Auch das sechste Album von Peter Licht blickt mutig den Tatsachen ins Auge, um sie sich dann auf ganz eigene subversive Weise vorzuknöpfen. Bei „Candy Käsemann“ kommen die Probleme in sehr relaxter, beschwingter Manier daher, mit schmelzendem Soul in der Stimme und lässigen Tautologien in den Aussagen. Euphorisch jubiliert das Instrumentarium in der Single „Menschen“ als veritabler Indie-Pop-Hymne. Gute Nachrichten werden im „Kontolied“ als nerdiger Rap verkündet, das darauf folgende „Umentscheidungslied“ als freakiger Minimal Techno beklagt das Durcheinander der Möglichkeiten.

Der Musiker und Autor mag ein sehr geschätzter Kritiker der Verhältnisse sein, seine Einlassungen zur Lage sind allerdings stets konsequent eingeklemmt zwischen ironischer Banalität und grotesker Komplexität, dass am Ende alle aufdringliche Eindeutigkeit nach Luft japst. Von Dada bis Gaga, Andreas Dorau bis Helge Schneider, Poesie bis Anarchie, Realität bis Absurdität erstreckt sich die Fachkompetenz des unterhaltsamen Bedenkenträgers. Wenn bei ihm die Sinnfrage gestellt wird, dann nur in der absoluten Formenvielfalt von Hintersinn, Widersinn, Irrsinn bis Unsinn.

Den Zwang zur optimierten Persönlichkeit bringt das fröhliche „Liebeslied von unten/Optionslied“ auf den Punkt: „Ich liebe dich / Insbesondere die Option auf deine Veränderung“. Veränderungen anderer Art sind bei „Letzte Tote des großen Krieges“ zu beklagen, dem mit viel Sentiment und Autotune in einer fast sechsminütigen Ballade Rechnung getragen wird, von denen anderthalb Minuten ausbrechen in einen irritierenden Noise-Rock-Techno-Marsch.

Peter Licht unterläuft immer wieder bewusst die Erwartungen. Seine zehn neuen Songs wollen nicht glänzen, sie sollen wirken. Dafür nimmt der Kölner in Kauf, dass es Ecken und Kanten gibt, nicht jede Melodie, nicht jeder Rhythmus, nicht jede Zeile sich devot beim Hörer einschmeichelt. Seine schrägen Pop-Miniaturen atmen die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks, wagen sich raus aus der Komfortzone und arbeiten hart an ihrem Auftrag: der Schwere mit Leichtigkeit zu begegnen. Oliver Seifert

RATING: 8/10
ANSPIELTIPPS: Candy Käsemann, Emotionale/Hört die Signale, Menschen