Hosen runter, Popcorn raus

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Choreograf Galván veranstaltet im Großen Theater eine Anti-Party.

Getanzte Frechheit oder avantgardistisches Gesamtkunstwerk? An der Arbeit von Israel Galván scheiden sich die Geister. Sein Auftritt in Luxemburg stellte diesbezüglich keine Ausnahme dar.

Fast jeder DJ hat diesen einen Rausschmeißer-Song, den er (oder sie) spielt, wenn es Zeit wird, den Gästen klarzumachen, dass die Party so langsam vorbei ist und es sich ausgetanzt hat. Bei der neuen Choreografie „La fiesta“ des spanischen Tänzers verabschiedeten sich mehr als 20 der anwesenden 400 Gäste bereits lange bevor die tänzerische Feierlichkeit vorbei war. Möglicherweise auch, weil das Fest, zu dem geladen worden war, mehr einer Anti-Party gleichkam.

Der aus Sevilla stammende „bailaor“ Israel Galván de los Reyes wird von manchen Kritikern als der „Picasso des Flamencos“ bezeichnet. Seine Produktionen haben definitiv etwas Fragmentarisches, Collagenhaftes, und doch fühlt man sich beim Betrachten seiner teils verstörenden und stets provokativen Tanzstücke eher an Dalí erinnert. Denn er spielt einerseits mit (alb)traumhaften, allemal aber absurden Elementen und hat andererseits eine nicht gerade obrigkeitshörige Haltung gegenüber Traditionen.

Bei „La fiesta“ bringt eine neunköpfige Truppe, die aus eher atypischen Charakteren besteht, zwar Standards aus dem Flamenco aufs Tanzparkett, also das „cante“ sowie das „toque“ und natürlich auch das „baile“, aber sie verschmelzen nicht miteinander. Vielmehr ist das Ergebnis eine Massenkarambolage, aus der quasi die „Gaffer“, also das Publikum, nicht ganz unbeschadet herausgehen. Hier wird ein surrealistisches Gemisch zusammengebraut, das nicht jedem mundet. Stein des Anstoßes ist wohl für manch einen, dass Galván eine gewisse Expertise darin aufweist, immaterielles Kulturerbe so zu dekonstruieren, teils auseinanderzureißen oder gar so in die Luft zu sprengen, dass man es in der Folge nicht mehr vollständig zusammensetzen kann. Der Zuschauer bleibt inmitten eines zertanzten Scherbenhaufens zurück. Dies fasst der eine oder die andere als Respektlosigkeit auf, obwohl Galván von sich selbst behauptet, die Kultur seiner Heimat zu verehren.

Seit der Weltpremiere von „La fiesta“ in St. Pölten im vergangenen Jahr erläuterte Galván gegenüber mehreren Fachjournalisten, ihm gehe es vorrangig um die tragische Seite von Festlichkeiten. Um das, was bei solchen Zusammenkünften im Verborgenen geschehe. Um das Unlogische, das Unberechenbare, kurz das Menschliche. Gerade diese Terminologie passt zu dem, was sich einem auf der Bühne offenbart. Der Schein weicht von Anfang an dem traurigen Sein, das Zahnpastalächeln der verzerrten Fratze und der Freudentanz den gehetzten Bewegungen eines vom bedrohlichen Rhythmus Getriebenen. Aus Gesang wird Geschrei, aus gestellter Ästhetik durchaus realistische Hässlichkeit.

Keine Fehltritte

Wer sich im Zusammenhang mit diesem Künstlerkollektiv auf „schönen“ Flamenco gefreut hatte, hatte weit gefehlt und es scheinbar verpasst, den Veranstaltungstext zu lesen sowie sich über den Kopf dieser wilden Bande zu informieren. Galván reflektiert nämlich tanzend. Seine Kreationen sind eine Art Meta-Tanz, im Rahmen dessen Althergebrachtes hinterfragt wird. Ohne Angst vor potenziell unerfreulichen Antworten. Wer nur unterhalten werden möchte, hat das falsche Paar Tanzschuhe erwischt.

Obwohl sich Galván vom Ursprung entfernt und mit Momenten eine Ode an das Abstrakte herbeitanzt, fehlt es ihm nicht an Bodenhaftung. Die Aufmerksamkeit des zeitgenössischen Tänzers gilt Neuinterpretationen der Realität, die nicht immer leichtfüßig erzählt werden. Im „INFERNO Magazine Arts & Scènes contemporaines“ erklärte er hierzu passend: „J’ai le sentiment que l’art te permet de t’abstraire du monde réel et qu’en même temps il t’oblige à y être connecté sinon tu ne peux pas lui transmettre ta folie (…) L’art te donne la possibilité d’être hors de cette quotidienneté tout en y jetant un œil.“ Wurzeln liegen nicht etwa wie Ketten um seine Füße, die er als tickende Zeitbombe fast nie stillhalten kann, sondern er verleiht ihnen durch seine eigenwilligen Tanzschritte neue Flexibilität. Er lotet Grenzen aus, überschreitet sie und lässt offen, ob und falls ja, wie er zurückkehren wird. Am Donnerstagabend stimmten eine kleine ältere Dame, welche ihr Reichtum an Hüftgold zur Schau stellte, sowie ein Herr, der das Publikum mehr als einmal mithilfe seiner Unterwäsche und Oberkörperbehaarung in den Bann zog, auf das geordnete Chaos ein, das folgen sollte. Sie sangen nicht, sondern spuckten Töne heraus, die wie verunglücktes Beatboxen klangen. Unweigerlich musste man an Wilhelm Buschs „Musik wird oft nicht schön gefunden, weil stets mit Geräusch verbunden“ denken. Zwei Männer ergänzten die kleine Runde mit dem für den Flamenco typischen Klatschen, also den „palmas“. Jedoch wirken sie wie Karikaturen ihrer selbst, da sie sich in Trainingsanzügen, die an die (ungemein tiefen) Abgründe der 80er erinnerten, präsentierten.

Während sich gemeinsam in eine von Dissonanz geprägte Art Trance hineingesteigert wurde (dies sollte zu einem anstrengenden roten Faden in den darauffolgenden eineinhalb Stunden werden), „betrat“ Galván nur indirekt die Bühne. Beziehungsweise krabbelte er quasi gleitend ins Geschehen hinein. Zwar vollzog Galván Flamenco-ähnliche Bewegungen, bald liegend oder halb sitzend, doch er zog das Ganze irgendwie ins Lächerliche, nahm sich selbst nicht all zu ernst und verzichtete von Anfang an auf das klischeehafte Männlichkeitsbild, das man aus dem Flamenco kennt. Diese Pervertierung der Geschlechterrollen sollte sich auch durch den Rest des Stückes ziehen und auf die anderen Figuren in „La fiesta“ übergehen.

Das Team spielte dem Publikum eigentlich permanent Streiche; immer dann, wenn man wieder glaubte, etwas Bekanntes, Greifbares auf der Bühne zu erhaschen, wurde es in sein Gegenteil umgekehrt. So begann beispielsweise einer der Akteure zu singen, zog dann jedoch seine Hose herunter und setzte sich auf einen Stuhl, so als würde er nun Geschäfte abwickeln, die eigentlich ihn etwas angehen. Sein trauriger Gesang ging regelmäßig in Jammer über, dessen Ursprung man eher im Bereich der Magengrube, als im Seelenleid verortet hätte. Dies war übrigens der erste Moment, in dem sich einige der Zuschauer erhoben und gingen. Sie wirken nicht unbedingt so, also hätten sie nur vergessen, die Herdplatte zuhause auszuschalten. Auch Galván ließ die Hosen runter, zog sie jedoch nicht ganz aus. Vielmehr bewies er, dass man auch in diesem Fanggriff der eigenen Kleider trotzdem noch tanzen kann.

Obwohl dies wohl einige entrüstete Besucher anders sehen, gab es bei „La fiesta“ eigentlich keine Fehltritte, kein Schritt ging ins Leere, kein Geräusch war ausschließlich dekorativ gedacht. Immer wieder stimmte man sich aufeinander ein. Wenn ein Ton entstand, folgte ein sich langsam aufbauendes, gigantisches Echo. In einer Szene tanzten Teile der Belegschaft auf Tischen, auf den wiederum andere auf Stühlen Platz genommen hatten. An den Tischbeinen befanden sich Federn und auf manchen Platten lagen Münzstücke. Durch tanzendes Springen produzierten nicht nur die Beschläge an den Schuhen, sondern auch die Stuhlbeine, die immer wieder auf die Oberfläche knalltenund das Geld Geräusche. Geklatscht wurde ebenfalls nicht ausschließlich in die Hände, auch nackte Oberkörper, Backen oder Popcornschüsseln auf Köpfen kamen zum Einsatz. Im Laufe von „La fiesta“ wird klar, dass eine Party zum /experimentellen) Schlachtfeld werden kann, auf dem ein erhöhtes Risiko besteht, verloren zu gehen. Es braucht gewissermaßen Biss und eine gewisse Portion Aggressivität, um sich durchzuschlagen. Deswegen wurde in diesem Fall nicht nur auf Zehenspitzen geswchlichen, sondern durch und mit Tanzschritten gekämpft. In einer der abschließenden Szenen findet man eine Situation vor, die ein wenig an das Berliner Berghain sonntags morgens um 10:00 Uhr erinnert. Das Licht geht an und jeder wirkt ein wenig so, als fände er nicht mehr aus seinem kleinen Mikrokosmos heraus. Nichtsdestotrotz gelingt es den Musikern wie Tänzern in diesem Stück sich wieder zu befreien, ob das Publikum hingegen den Weg aus diesem tänzerischen Labyrinth findet, bleibt abzuwarten.