Elektronische Tour de France: Kraftwerk entern die Abtei Neumünster

Elektronische Tour de France: Kraftwerk entern die Abtei Neumünster
Kraftwerk in Düsseldorf (Foto: Peter Boettche)

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Die elektronische Musik hat in den hiesigen Zeiten modernster Medialität neue Dimensionen erreicht und begeistert Massen weltweit. Eine solche musikalische Gegenwart würde es jedoch zweifellos nicht ohne die Pionierarbeit in der Vergangenheit geben, und so war es für 3.000 Zuschauer ein wahres Highlight, die Elektropop-Wegbereiter von Kraftwerk in der Abtei Neumünster open-air auf ihrer Tour sehen zu dürfen – in 3D.

Von Sascha Dahm

Bereits 1968 gründeten Ralf Hütter und Florian Schneider die Gruppe Organisation, Vorläufer von Kraftwerk, und veröffentlichten mit dem Longplayer „Tone Float“ eine Platte, die erste Leitmotive der späteren Alben andeutete. Erst mit der Gründung des eigenen „Kling-Klang-Studios“ in Düsseldorf 1970 fanden sich die Mitglieder unter dem neuen Namen Kraftwerk zusammen.

In ihrem „Wahn“, Grenzen der bisherigen Musikgenres zu durchbrechen und -kreuzen, begannen Kraftwerk nicht nur ihren eigenen Sound zu produzieren, sondern darüber hinaus ihren ganz eigenen Stil mit der Schaffung eigener Instrumente wie dem Oszillator oder selbstgebauter Rhythmus-Maschinen, die den unverwechselbaren Kraftwerk-Sound bis heute definieren, zu finden.

Wir fahren auf der Autobahn

1973 gilt als der Wendepunkt in der Musikgeschichte, da mit „Autobahn“ das erste Album des Elektropop-Genres erschien und Kraftwerk weltweite Anerkennung verschaffte. Kurze Wortfetzen und Phrasen, die sich mit Soundeffekten und Melodienbruchstücken abwechseln, bestimmten den neuen Sound der 70er-Jahre.

Nach neun Alben bis 1986 begann es, ruhiger um die Band zu werden. Erst 1999, passend zur bevorstehenden Expo 2000 in Hannover, meldeten sich Kraftwerk zurück und zeigten in den Folgejahren, dass sie nichts von ihrer Virtuosität eingebüßt haben und mit „Tour de France“ 2003 den ersten Nummer-eins-Hit ihrer Karriere verbuchen konnten. 2017 erschien ihr bisher letztes Album, das den Titel „3D – Der Katalog“ trägt.

3D – der Name war auch konzerttechnisch Programm und so verwundert es nicht, dass jeder Zuschauer an der Eingangstür eine Schatulle mit Kraftwerklogo erhielt, in der sich eine weiße 3D-Brille zum optimalen Genuss des Konzerts befand. Sicherlich mag es „spacy“ erscheinen, unter freiem Himmel Tausende Menschen mit weißen Brillen, ähnlich einer Sonnenfinsternis zu sehen, und doch gewöhnte man sich relativ schnell an diesem Umstand und freute sich, als um kurz nach 21 Uhr vier Gestalten in roboterähnlichen Gitterkostümen die Bühne betraten und mit „Numbers/Computer World“ ihre Reise begannen.

Roboterherzen

Es fällt sofort auf, dass gerade ein solch visuelles Konzerterlebnis erst dann richtig funktioniert, wenn es dämmert oder ganz dunkel wird; so verwundert es auch nicht sonderlich, dass viele während der ersten fünf Songs noch mehr mit Verpflegung oder etwaigen Privatgesprächen beschäftigt waren als mit der Band.

Kraftwerk ließen sich auch was einfallen: Das Leinwandspiel während des Songs „Spacelab“ zeigte zu Beginn eine fliegende Untertasse, die im Grund-Tal in der Stadt landete. Erst mit „Das Model“, „Neon Lights“ und „Autobahn“ begann sich das Quartett musikalisch und visuell in die Roboterherzen der Luxemburger zu spielen und man konnte das Konzert nun auch als Gesamtkunstwerk wahrnehmen und genießen.

Als äußerst passend für die selbsternannte Fahrradnation Luxemburg fügte sich der Klassiker „Tour de France“ in die Setlist ein. Es fällt auf, und das mag nicht verwundern, dass Kraftwerk sich über die Jahrzehnte hinweg immer dem Themenkosmos der Technik, Technologie, Physik und Dynamik verschrieben haben und dieser auch die Videoeinspieler bestimmt: Vom grünen Volkswagen-Käfer über Atomkritik bis hin zu Fahrrädern und Robotern sind alle Elemente vertreten.

Wandelbarkeit als Markenzeichen

Mag dem einen oder anderen die 3D-Show nicht weit genug gehen oder die visuellen Bilder womöglich etwas stark veraltet wirken, so kann man es auch als Markenzeichen Kraftwerks deuten, die sich selbst in ihrer Wandelbarkeit immer treu geblieben sind.

Nach 16 Songs verließen die vier Lichtgestalten um Ralf Hütter die Bühne und es blieb der Eindruck, an etwas Großem teilgenommen zu haben, obwohl man das Gefühl hat, dass irgendetwas gefehlt hat …