Der Spanner als selbsternannter Wissenschaftler

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„Der Voyeur“, wie der Protagonist dieses Buches, Gerald Foos, sich bezeichnet, kam nach langer Beobachtung von Paaren in seinem Motel zum Fazit: „12 Prozent aller beobachteten Paare verfügen über einen starken Sexualtrieb. 62 Prozent führen ein mäßig aktives Geschlechtsleben. 22 Prozent sind mit einem geringen Geschlechtstrieb ausgestattet. 3 Prozent haben überhaupt keinen Sex.“

Aufgeschrieben hat das Gay Talese, 85, eine US-Journalistenlegende. Der Mitbegründer des New Journalism, des literarischen Journalismus, gilt als glaubhaft. Er hat für die „New York Times“ und die besten Magazine der USA geschrieben, dazu Bücher. „Die Motivation des Voyeurs ist die Erwartung“, schreibt Talese. Dafür müsse er eine lange Zeit seines Lebens einsetzen. „Nach Stunden berechnet, wird wohl niemand für seine Mühen schlechter entlohnt als ein Spanner“, resümiert Talese.

Löcher in den Zimmerdecken

1980 erhielt er einen anonymen Eilbrief. Später stellte sich heraus, dass der Absender Gerald Foos war, Besitzer eines Hotels in Aurora im Bundesstaat Colorado. Durch als Lüftungsschacht getarnte Löcher in den Zimmerdecken beobachtet er seine Gäste beim Sex. Was er sieht und hört, protokolliert er penibel. Er beschreibt die Menschen allein und zu zweit, ihre Gespräche, ihr Verhalten im Bad und im Bett.

Ehefrau Anita ist eingeweiht und interessiert sich ebenfalls für die Live-Pornos. Foos sieht sich als einen Chronisten, sogar als „Pionier der Sexualforschung“. Denn er hält Geheimnisse fest, die ohne ihn nie an die Öffentlichkeit gelangen könnten. „Fünfzehn Jahre habe ich auf diese Weise Studien betrieben“, schreibt Foos. „Von einem Großteil der beobachteten Personen habe ich präzise Aufzeichnungen angefertigt und aufschlussreiche Statistiken zusammengetragen; die individuellen Merkmale der Menschen; Alter und Körpertyp; sowie ihr Sexualverhalten.“

Interessantes Thema

Er bittet Gay Talese, seine Dokumentation zu sichten und das Thema in einem Buch aufzugreifen. Erst will der berühmte Journalist nicht, dann tut er es doch, das Thema ist zu interessant. Im prüden Amerika, in dem schon allzu viel Nacktheit an Stränden verpönt ist, war das Buch ein Bestseller, die Filmrechte wurden für 2,5 Millionen Dollar verkauft.

Jahrelang war Gay Talese nur „der Brieffreund des Voyeurs, sein Beichtvater womöglich, der Erfüllungsgehilfe eines geheimen Lebens“. 2013 brachte er den Voyeur dazu, seine Anonymität aufzugeben. Gerald Foos willigt schließlich ein, im mittleren Teil des Buches ist er auf Fotos zu sehen.

Mittlerweile ist er ein alter Mann, der am Stock geht. Er sieht sich nach wie vor als Gucklochschauer als Wissenschaftler, seine Beschreibungen gehen aber stets in sehr subjektive Schilderungen über. Mitunter äußert er den Wunsch, selbst Akteur zu sein. „Eine ungeheure Erregung ergreift mich“, so Foos, der ausgestreckt im flachen Giebeldach liegt. „Mir war gelungen, wovon andere Menschen nur träumen konnten. Allein der Gedanke löste ein Gefühl von Macht und grenzenloser Überlegenheit aus.“ Einmal masturbiert er in seinem Speicherversteck so heftig, dass sein Sperma durch die Decke in das Hotelzimmer tropft.

Gesellschaftsanalyse

Alle Menschen denken darüber nach, wie andere Sex haben. Geredet wird darüber nicht. Gay Talese verschnürt Gerald Foos’ Spannergeschichte mit der Entwicklungsgeschichte der Sexualität in den USA. Sein Bericht, den er aus Foos’ Briefen analysiert, ist auch eine Gesellschaftsanalyse. Teilweise sind die sehr konkreten Beschreibungen nur schwer zu ertragen.

Als der Voyeur und seine Frau Anita das Motel verkauften, weinten sie. Das Objekt ihrer Begierden wurde vom neuen Besitzer platt gemacht, das Grundstück neu bebaut.

(Roland Mischke, Berlin)

Gay Talese: „Der Voyeur.“ Aus dem Englischen von Alexander Weber. Tempo, Hamburg, 2017, 224 S.

John
30. Juni 2017 - 13.48

AN DAT SOLL EEN GUT FANNEN WAT DEN PERVERSEN DO OBGESCHRIEWEN HUET.