Der Krieg der Schweine

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Tendenzen der zeitgenössischen Literatur.

Robert Menasses „Die Hauptstadt“ (deutscher Buchpreis 2017) ist eine polyfone, komplexe Satire, die mithilfe von Ironie, wechselnden Gesichtspunkten, figuraler Erzählung und einer gehörigen Portion Humor die geopolitischen Sackgassen des europäischen Projekts auslotet – und augenzwinkernd Lösungsvorschläge bietet. Zwischen postmoderner Ironie und dunkler Geschichtsschreibung ist Menasses Roman trotz einiger holpriger Momente ein erfrischendes Prosawerk, das launisch zwischen bitterböser Parodie und kritischer Hoffnungslosigkeit pendelt – und genau wie das Schwein, das den ganzen Roman über durch Brüssel stürmt, unfassbar sein möchte.

Ein Schwein geht um in Europa. Es ist das Schwein des Neoliberalismus, das den europäischen Traum zunehmend in einen Wirtschaftspakt verwandelt. Es ist das Schwein der Nationalismen – und damit der Rückkehr der Identitätskrisen und der immer weniger unterschwelligen, immer weniger latenten Fremdenfeindlichkeit, die das Projekt einer supranationalen Entität peinigen. Es ist der innere Schweinehund, der viele der Figuren in Menasses Roman belastet und sie von dem Idealismus, der sie eigentlich antreiben sollte, abbringt.

Beginnen tut „Die Hauptstadt“ aber nicht mit einer Metapher, sondern mit einem rosa Schwein, das von fast allen Hauptfiguren des Romans gesichtet wird. Menasses Schwein rennt durch die Brüsseler Gassen, zieht sich wie ein roter, blutiger Faden durch den Roman, wird hier zum Zentrum der Satire, zur Metapher für das holprig gewordene europäische Projekt, bekommt dort, wenn Florian Susman seinem Bruder Martin die Spitzfindigkeiten des nationalen Schweinehandels zwischen EU-Regulierung, nationalen Interessen und der Lukrativität des chinesischen Markts erklärt, ebendiese zu offensichtliche Symbolik abgesteift – wie das wahre Schwein im Schlachthaus –, um anhand eines Fallbeispiels die innere Zerrissenheit der Europäischen Union konkret darzustellen.

Brüssel, 2017. Das Image der EU-Kommission soll aufgebessert werden – man will weg vom Image einer trockenen Beamten-Institution. Ausgerechnet die Generaldirektion der ungeliebten Kultur soll dieses Projekt in die Hand nehmen. Fenia Xenopolou, die eigentlich nur weg aus der Sackgasse Kultur will, übergibt das Projekt Martin Susman, der unfreiwillig für Turbulenzen sorgt, indem er sich dafür entscheidet, Auschwitz ins Zentrum des Projekts zu stellen. Das europäische Projekt sei ja auf den Aschen der Konzentrationslager entstanden, die den Fanatismus und die Risiken der Nationalismen resümieren, weshalb man sich dazu entscheidet, die noch lebenden Zeitzeugen für das Projekt zu gewinnen.
Überhaupt hängt der (leider quicklebendige) Geist des Nationalsozialismus wie ein Schatten über dem Roman: Eine der Hauptfiguren, David de Vriend, ist KZ-Überlebender, die industrielle Schweinezucht, für die Florian Susman steht, wird unlängst sogar von verschiedenen Philosophen mit den Lagern der Nazis verglichen und Alois Erhart, Emeritus für Volkswirtschaft, hält im Rahmen eines Thinktanks für die Zukunft Europas eine radikale Rede gegen das Mitläuferdenken der Beamten.

Das „Begräbnis einer Epoche“

Menasse zeigt, wie problematisch dieses Verhandeln des Nationalsozialismus immer noch ist: Seine Anwesenheit ruiniert auf nimmer die Möglichkeit einer säkularen Vergebung für die Menschheit, seine Abwesenheit – eine bedrohlich nahe Perspektive, da in baldiger Nähe der letzte Zeitzeuge gestorben sein wird, wie eine grandiose Passage über Statistikerstellung uns zu bedenken gibt – riskiert die Menschen wieder zu denselben Fehlern zu verleiten.

Das Schwein steht auch für die zersplitterte, gesprengte Gliederung des Romans, die wir vor zwei Wochen ebenfalls bei Daniel Rondeaus „Mécaniques du chaos“ analysiert haben – als würde eine kaputte Welt unwiderruflich kaputte Strukturierungen, im Zentrum derer sich noch kaputtere Figuren befinden, hervorrufen. Menasses Roman beginnt folglich folgendermaßen: „Wer hat den Senf erfunden? Das ist kein guter Anfang für einen Roman. Andererseits: Es kann keinen guten Anfang geben, weil es, ob gut oder weniger gut, gar keinen Anfang gibt. Denn jeder denkbare erste Satz ist bereits ein Ende (…).“
Was folgt, ist ein Buch, dessen gesprengte Struktur ständig von Metakommentaren über Strukturierung, das Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit sowie die Überlegungen der Figuren über ihren oder den Sprachgebrauch der anderen Figuren durchzogen wird, die den Roman nicht nur semantisch, sondern auch sprachlich dezentralisieren.
Die Figuren werden mitten in ihren Existenzen aufgegriffen, um dann gegen Ende des Romans verändert wieder zurückgelassen zu werden. Aber genau wie es für Menasse keinen Anfang und kein Ende geben kann, kann es für ihn auch keine Entwicklung im teleologischen Sinne des Wortes geben: Dinge passieren durch Zufall, Schicksale vermischen sich, Beziehungen verzahnen sich, ohne dass hier eine Lektion gelernt werden soll. Fern jeder Moral – der Roman erhebt keinen Zeigefinger, auch wenn in der Beamtenparodie durchaus so etwas wie Kritik durchscheint – beschreibt Menasse auf eine nur leicht hyperbolische Art den Strudel des komplexen Zusammenlebens und unserer Bemühungen, ihn koordinieren und strukturieren zu wollen.

„Die Hauptstadt“ spiegelt somit in seiner Struktur die Komplexität selbst des europäischen Projekts: Die Zerfahrenheit, die Reibungen, mit der seine unterschiedlichen Personalien in einem suprafiguralen Narrativ zusammengeführt werden, erinnert natürlich an diese unmögliche Utopie, Tausende an (individuellen, gemeinschaftlichen, kapitalistischen, nationalen) Eigeninteressen in einem gemeinsamen Überprojekt subsumieren zu wollen.
In dieser narrativen Dezentralisierung liegt die Quintessenz des europäischen Projekts. Das Porträt eines zersplitterten Europas und die Fragestellung der verschiedenen Figuren – mit denen man sich mehr oder weniger identifizieren kann – ist überaus gelungen, da sich Menasse – und das ist einer der theoretischen Trümpfe jeder Fiktion – nicht auf eine Meinung festlegen muss. Fiktion kann Theorien aufwerfen, in den Raum stellen, ohne sich ihnen ideologisch unterwerfen zu müssen: Man legt sie in den Mund einer Figur und kann sich so jederzeit und graduell von ihr distanzieren.

Diese Gegebenheit der Fiktion ist einerseits potenziell gefährlich, andererseits muss man z.B. nicht mit der Rede von Alois Erhart einverstanden sein, um den Denkprozess der Figur interessant zu finden. So ist Menasses Roman ein vielleicht interessanteres Plädoyer für das europäische Projekt als jeder Essay, da in seiner polyfonen Vielfalt sowohl Hoffnung durchschimmert als auch der bitterböse Eigennutz der Menschen immer wieder aufblitzt.

Schwein gehabt?

Die Schicksale der verschiedenen Figuren verflechten sich durch das Auftauchen von Zufälligkeiten – hier erscheint immer wieder, semantisch oder linguistisch, das Schwein, dort spielt ein Café Kafka eine Rolle, irgendwann bestellen verschiedene Figuren an verschiedenen Orten ein Waterzooi –, oft spielt Menasse aber nur mit seinem Leser, indem er mithilfe struktureller Parallelen Indizien verstreut, die einen denken lassen, diese und jene Figuren müssten sich bald kreuzen, ohne dass dies dann passieren wird. Menasses allwissender Erzähler kommentiert dies schelmisch, wenn er sich fragt: „Aber welche Bedeutungen haben schon Zusammenhänge, Verflechtungen und Vernetzungen, wenn die Betreffenden nichts davon wissen?“

In ihrem Werk „Coincidence and Counterfactuality“ resümiert Hillary Dannenberg die literarische Geschichte des Zufallsplots und zeigt, wie diese an sich etwas kitschigen, oftmals plumpen narrativen Wendung in der postmodernen Literatur ironisch verarbeitet werden, da die Postmoderne sich bewusst ist, dass Literatur, die zu sehr mit semantischen Zufällen arbeitet, zwar unglaubwürdig wirkt, Zufälligkeiten auf der Metaebene aber gewollt unglaubwürdig eingesetzt werden können, damit jeder merkt, dass man hier Literatur praktiziert und keine realistischen Ansprüche hegt.

Des Weiteren werden in der postmodernen Literatur die Zufälle nicht mehr zur handlungstechnischen Auflösung genutzt, sondern als strukturierendes Prinzip, um für Rhythmus zu sorgen oder mit Methoden der Analogie, wie in einer Fuge von Bach, eine Illusion von Ordnung zu schaffen.

Interessanterweise nutzt Menasse die Zufälligkeiten zwar, um seine Prosa zu strukturieren, die Parallelismen in der Handlung zeigen aber nur auf, dass diese inszenierten Zufälle absolut bedeutungslos sind, weil die Welt, in der sie stattfinden, es auch ist. Trotz einiger holpriger Passagen, in denen das Sprengen der syntaktischen Kausalität zu einer sicherlich gewollten, aber dennoch ineffizienten stilistischen Verfremdung führt, und einem Handlungsstrang, dessen Da-Vinci-Code-Pastiche irgendwie zu aufgesetzt wirkt, ist Menasses „Hauptstadt“ vielleicht der Roman, der den europäischen Zwiespalt am besten resümiert, da er das Chaos nicht zu lösen versucht, sondern eine Vielfalt an Visionen und Egoismen nebeneinander stellt.