/ Astronautengott und Oktoberfest
Vor uns wirbelt ein blonder Typ mit einer Haarpracht, die an Sänger Bob Wintersdorff von der deutsch-luxemburgischen Band „Assorted Nails“ erinnert – als der sein Haar noch lang trug. Die blonden Strähnen peitschen seinen Bierbecher, den er auf der Bühne abgestellt hat, in Richtung Kante, man wird kurz vom Konzert abgelenkt, fragt sich, wann er (der Bierbecher) denn nun zu Boden gehen wird.
Schnell zieht er einen aber wieder in seinen Bann, der Auftritt von Long Distance Calling, der einen frühen Höhepunkt der ersten Auflage des Gloomaar-Festivals darstellt. Die deutsche Band konzentriert sich live auf ihre Stärken – sprich es gibt keine Gesangseinlagen und eigentlich nur Material aus den ersten drei Scheiben.
Fokus aufs Frühwerk
Dass die letzten beiden Alben nicht vertreten sind, könnte einen entweder skeptisch stimmen, was die heutige Kreativität der Band anbelangt, man könnte aber auch darüber spekulieren, dass sich das nächste Album stilistisch wieder von diesem Material inspirieren lässt. Angesichts der Stärke des Sets wäre dies definitiv empfehlenswert.
Das Konzert wird mit „Into the Great Wide Open“ eröffnet, das vor brillanten Ideen nur so strotzt: Da bricht ein grandioses Bassriff den Fluss des Songs und orientiert den Track in eine andere Richtung, hier türmen sich die Gitarren zum grandiosen Finale auf, das fast zyklisch an den Beginn des Stücks anknüpft, diesem aber noch ein himmlisches Solo drauflegt.
Es folgt „Black Paper Planes“, einer der stärksten Postrock-Tracks, die jemals geschrieben wurden (keine Übertreibung, hört euch das Lied an und ihr versteht, was ich meine).
Mit „Aurora“, „Apparitions“ und „Arecibo“ gibt es danach gleich drei Tracks, die mit dem ersten Buchstaben des Alphabets anfangen, es scheint, als wollten Long Distance Calling so der Geburt des Festivals eine Ehre erweisen (vielleicht überinterpretiere ich hier aber bloß eine Setlist). Dieses Konzert zu übertrumpfen, sollte sich als schwierig erweisen, flüstert mir jemand zu. Das wird auch nicht bewerkstelligt werden, ist aber eigentlich halb so schlimm.
Industrieller Charme
Vor Long Distance Calling hatten Colaris (leider verpasst, die Autobahn nach Neunkirchen war gesperrt, Joel und Tessy, zwei Luxemburger, die bei jedem ausländischen Postrock-Festival unweigerlich auftauchen und genauso unweigerlich gegen Ende wieder verschwinden, versichern mir aber, die wären sehr toll, ich denke, man kann den beiden das einfach glauben) den Abend eingeleitet, danach gab’s eine ordentliche (Last Leaf Down) und eine sehr gute (The Intersphere) Performance.
Zwischen den Bands war etwas Zeit, die Neue Gebläsehalle in Neunkirchen zu erkunden. Fazit: Luxemburg und die Rockhal haben nicht das Monopol kultureller Nutzung brachliegender Industriegebiete, die Gebläsehalle hat den schicken Hochofen direkt vor der Tür und hat mehr Charme und Seele (war auch nicht schwer) als die Rockhal.
Unter dem Hochofen ist ein Zelt aufgerichtet worden, das Oktoberfest wird heftig zelebriert, Schatzi schenkt wieder mal Fotos, die Biergläser klirren nicht wirklich im Takt, die Diskrepanz zur Musik auf dem Gloomaar könnte heftiger eigentlich nicht sein.
Astronautengottheit
Schnell also wieder rein, zur Astronautengottheit. Diese sind jetzt nur noch zu viert, ein Bandmitglied ist dem harten Tourleben zum Opfer gefallen. Das Quartett spielt immer noch wunderbar melancholische, fast zeitlose Musik, die Setlist ist aber, wie auf dem ArcTangent schon, etwas abgespeckt, verschiedene Karrierehighlights fehlen auf dem Programm, auch wenn das wunderbare „Suicide by Star“ oder das mitreißende „Echoes“ dies teilweise wieder wettmachen.
Die Nocturne machen „Les discrets“, hier hat sich leider auch das Publikum schon diskreter gemacht, was dem Konzert der Band aus Frankreich aber keinen Abbruch tut. Einige Nummern aus dem schönen neuen Album „Prédateurs“ werden hier zwischen den härteren Tracks der Vorgängeralben eingeflochten, das Set klingt sowohl melancholisch wie auch kräftig.
(Ein ganz wenig) Luft nach oben
Verbesserungswürdig erscheint mir vielleicht der Klang, der irgendwie zu groß angelegt ist für die Intimität der Sets, was mit sich bringt, dass verschiedene Subtilitäten – die Solos bei Long Distance Calling, der Gesang bei Les discrets – etwas im Mix untergehen. Aber das sind Kleinigkeiten, es muss ja noch ein bisschen Luft nach oben für die zweite Auflage geben.
Als wir dann zurück zum Auto gingen, war das Oktoberfestzelt bereits leer und (man darf ja noch träumen) irgendwie habe ich mir vorgestellt, einer der Organisatoren hätte sich in die Gebläsehalle verirrt, wäre dem Charme und der Kraft der dort gespielten Musik so sehr verfallen, dass er beschämt sein Bierfest unten aufgelöst hätte.
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