Angriff der Killertomaten: Warum Kritik-Aggregatoren das Kino zerstören

Angriff der Killertomaten: Warum Kritik-Aggregatoren das Kino zerstören

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Fitch, Moody’s, Standard & Poor’s: In den Jahren nach der Finanzkrise von 2007 waren diese Namen gefürchtet. Das Urteil der Ratingagenturen bestimmte das volkswirtschaftliche Schicksal ganzer Staaten. In der Filmbranche hört diese Geißel auf die Namen Rotten Tomatoes und Metacritic – und sie bringt eine ganze Lawine von Problemen mit sich.

Von Tom Haas

Kritik-Aggregatoren beziehen sich, anders als Amazon-Bewertungen oder Abstimmungsresultate bei IMDb, der Internet Movie Database, auf die Urteile „professioneller Kritiker“, um zu ihrer Wertung zu gelangen. Dadurch erwecken sie den Anschein von Objektivität, die Bewertung erhält Gewicht. Und tatsächlich zeichnet sich ab, dass Filme, die von der Webseite mit dem Urteil „Rotten“, also verfault, versehen werden, schlechtere Einspielergebnisse verzeichnen. Man könnte also annehmen, dass diese Art von Kritik im Internetzeitalter den Kinogängern schlechte Filme erspart und der milliardenschweren Marketingmaschinerie Hollywoods eine Idee von Geschmack entgegenhält.

„Die Verurteilten“, eine Verfilmung der Novelle „Rita Hayworth and Shawshank Redemption“ von Stephen King, hat ein Tomatometer-Rating von 91 Prozent. Avengers: Endgame hat ein TomatometerRating von 94 Prozent. Diese Beobachtung reicht eigentlich, um die zuvor getroffene Annahme ad absurdum zu führen. Das Rating suggeriert eine Vergleichbarkeit von Filmen, die schlichtweg nicht gegeben ist. Wenn ich jemandem davon erzähle, wie sehr mir die Händel-Interpretation der Music for the Royal Fireworks der Berliner Philharmoniker gefällt, und er antwortet mir, dass er Michael Jackson besser findet, dann mag das zwar ein legitimes Geschmacksurteil sein. Eine Aussage von inhaltlichem Wert ist es nicht.

Nicht nur gut oder schlecht

Genauso unsinnig ist es, eine Superheldenfranchise mit einer Literaturverfilmung zu vergleichen. Das Einzige, was beide Werke eint, ist das Medium Film, der künstlerische Anspruch ist völlig verschieden. Filme sind nie einfach nur gut oder schlecht, das ist nur eines von vielen ihrer Merkmale. Viel wichtiger ist es, die Aussagen zu analysieren und zu verstehen, die sie explizit oder implizit transportieren, und dazu Stellung zu beziehen – als Kritiker und als Zuschauer. Wer sich auf eine bloße Zahl verlässt, vermeidet nicht nur eine Auseinandersetzung mit der differenzierten Kritik, sondern mit dem Film an sich.

Das erste große Problem der Aggregatoren ist also ein intellektuelles. Denn natürlich legt ein Kritiker andere Maßstäbe an einen auf Massentauglichkeit getrimmten Blockbuster an als auf einen Film von Tarkowski oder Godard. Dieser Unterschied wird aber im Rating von Rotten Tomatoes nicht ersichtlich: Die Webseite behandelt jeden Film als gedankenloses Unterhaltungsprodukt, als Konsumgut, welches die Freizeit des Zuschauers möglichst kurzweilig auszufüllen hat. Und natürlich haben auch einige Filme genau diesen (böse Zungen sagen dazu „keinen“) Anspruch – aber eben längst nicht alle.

Das zweite Problem sind die Kritiker selbst. Nicht etwa die von Meryl Streep monierte Geschlechterungleichheit – weniger als 20% der auf Rotten Tomatoes vertretenen Kritiker sind Frauen, aber das ist ein Problem des Journalismus an sich –, sondern der Umstand, dass die Zunft der Schreiber sich der Seite und ihrem Prinzip auf geradezu widerwärtige Weise anbiedert.

Intellektuelle Bankrotterklärung

Damit eine Kritik in die Wertung von Rotten Tomatoes einfließt, muss der Kritiker sie nämlich selbst einreichen, inklusive eines kurzen Zitats, und auch selbst entscheiden, ob der Film als „Fresh“ oder „Rotten“ bewertet wird. Diese intellektuelle Bankrotterklärung ist bemerkenswert. Der Wunsch nach Distinktion und Relevanz scheint in diesem Moment sämtlichen journalistischen Berufsethos vergessen zu machen – als wäre es eine Auszeichnung, als individueller Schreiber seinen Teil zu einer unpersönlichen Zahl beigetragen zu haben. Vor dem Hintergrund wirkt Streeps Beobachtung ironischerweise fast wie ein Ritterschlag der weiblichen Filmkritik.

In einer Zeit, in der die Anzahl der von Amateuren betriebenen Filmblogs exponentiell wächst, während professionelle Nachrichtenpublikationen an Auflage verlieren (und fest angestellte Kritiker nicht selten die Ersten sind, die ihren Schreibtisch räumen müssen), verstärkt Rotten Tomatoes die Schlagseite der Kulturkritik, da sie nicht an dem gedanklichen Prozess interessiert sind, sondern nur an dem verwertbaren Resultat.
Die Konsequenz ist so einfach wie erschreckend: Menschen hören auf zu denken und flüchten sich in ihre Konsumblase, in der man ihnen vorkaut, was sie sich ansehen sollen. Einst war der größte Aufreger für einen Zuschauer ein in jeglichen Belangen schlechter Film, der sie unterforderte und weder emotional noch intellektuell zufrieden stellte. Heute ist das Schlimmste ein Spoiler. Aber wie wollen wir denn über das Werk reden, wenn der Inhalt ein Tabuthema ist?

Als Roger Ebert und Gene Siskel in den 70ern mit der Bewertung von Filmen – Daumen hoch oder Daumen runter – begannen, war das Teil ihrer TV-Show „At the Movies with Siskel & Ebert“, es war der mit Spannung erwartete Höhepunkt, der auf die ausufernde Diskussion der beiden Kritiker folgte. Ebert und Siskel gingen von einem aufgeklärten Publikum aus, das der Diskussion folgen konnte und imstande war, ihrem Urteil zu widersprechen. Doch was Rotten Tomatoes davon beibehält, ist das Urteil. Die Diskussion und das aufgeklärte Publikum sind verschwunden.

Vermischung von Kritik und Gewinninteressen

Gleichzeitig wächst die Reichweite der Seite (laut Statistiken war sie zeitweise auf Platz 167 der meistbesuchten Webseiten weltweit) und damit auch ihr Gewicht. Zieht man dazu in Betracht, dass der Betreiber, Fandango LLC, zugleich einer der größten Online-Ticketverkäufer der USA ist und sich im Besitz von Warner Bros. und NBC Universal, zwei der größten Filmproduzenten der Welt befindet, landen wir beim dritten, großen Problem: der Vermischung von Kritik und Gewinninteressen.

Und tatsächlich nutzen die Besitzer ihre Möglichkeiten: Das 40-Prozent-Rating von „Justice League“, der von Warner Bros. produzierten Konkurrenz zu den Avengers und tatsächlich noch bedeutend schlechter als das Marvel-Original, wurde mit einiger Verspätung auf Rotten Tomatoes veröffentlicht. Zwar verhinderte das Vorgehen das miserable Einspielergebnis des Films nicht, aber es ist fraglich, um wie viel schlechter der Film abgeschnitten hätte, wenn Rotten Tomatoes hier keinen Kniefall vor dem Produktionsstudio vollzogen hätte.

Standard & Poor’s und Rotten Tomatoes gehen in der Hinsicht Hand in Hand: Eine komplexe Beurteilung und intellektuelle Durchdringung weicht einer plakativen und nichtssagenden Bewertung in Form von Prozentangaben oder Schulnoten, getrieben vom eigenen Profitinteresse und zuungunsten aller. Zu diesem Zweck werden Daten verwertet und interpretiert, die andere ihnen gedankenlos und bereitwillig zur Verfügung stellen.

Denkfaulheit der Konsumenten

Was bleibt also zu tun? Nun, die Antwort ist für den Kinogänger so einfach wie anstrengend: Er muss ins Kino gehen und sich Filme ansehen, über sie nachdenken und Kritiken lesen. Der Erfolg von Rotten Tomatoes ist nicht zuletzt der Denkfaulheit der Konsumenten geschuldet.

Um den Körper in Form zu halten, befindet sich die westliche Welt seit Jahren im Fitnesswahn, rackert sich an Geräten bei schlechter Musik zu Tode und läuft verbissen bei Regen und Schnee ihre Runden durch den örtlichen Park. Die Einsicht, dass der Verstand ebenso Training benötigt, um aufmerksam und fit durch die Welt zu gehen und dass das Kino, die Bibliothek oder der Konzertsaal die Fitnessstudios des Intellekts sein können, muss sich vermutlich noch einstellen.

Die Zeichen stehen vielleicht nicht besonders gut, aber wie schon Andy Dufresne in „Die Verurteilten“ sagte: „Hoffnung ist eine gute Sache, vielleicht sogar die beste. Und gute Dinge können nicht sterben.“

Cornichon
22. August 2019 - 13.16

Ich muss zugeben, dass ich bei manchen Rezensionen die ungefähr so lauten "Ich habe den Film noch nicht gesehen, aber ich bin ein grosser Fan und gebe 10/10 Punkte" oder "Ich kann die Schauspieler nicht leiden, ich gebe 0/10 Punkte" gerne mal eine 0er oder 10er Rezension trotzig anhänge. Bei einer 0 schreib ich eine 10, und bei einer 10 schreib ich eine 0.

Justin
21. August 2019 - 20.30

Who cares? Die Filme sieht man eh nicht mehr, man wird von hundert Handyschirme geblendet, die die Teens während der Vorstellung benutzen, wahrscheinlich um Kritiken während der Vorstellung abzugeben.