Alors on danse

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Am Sonntag startet die sechsteilige Sendereihe „Move“ auf Arte. Hier werden nicht nur der Tanz selbst, sondern auch soziale, historische und kulturelle Aspekte von Bewegungen in einer globalisierten Welt unter die Lupe genommen.

Wie kann die menschliche Sehnsucht danach, selbst zu fliegen, wenigstens ansatzweise tänzerisch befriedigt werden? Welche Beziehung muss hierfür zu Raum und Zeit bestehen? Wo in der Geschichte des Tanzes können erste flugähnliche Bewegungen verortet werden? Mit unter anderem diesen Fragen hebt die erste Folge der neuen Sendung „Move“ von Lena Kupatz nicht etwa ab, ganz im Gegenteil: Hier wird sich eher intellektuell auf dem Boden der Tatsachen ausgetobt und quasi eine abzweigungsreiche Mindmap getanzt.

Wie in den fünf weiteren Folgen werden stets auch wissenschaftliche Aspekte, die vor oder hinter Bewegungsabläufen stehen, auf eine spannende Art und Weise mit Experten, Wissenschaftlern sowie Forscherinnen beleuchtet und diskutiert. Man geht bei diesem knapp halbstündigen Format also einen Tanz- und Denkschritt weiter, um hinter die primäre Erscheinungsform des Tanzes zu schauen, der nie „nur“ eine reine Kunstform, sondern auch ein Spiegel gesellschaftlicher Belange sein kann. Es werden detailreiche Körperstudien angefertigt, soziologische Aspekte hinter Körperhaltungen beachtet und kulturgeschichtliche Analysen vorgenommen.

Durch die gewählten Oberthemen (Fliegen, Angst, der digitale Mensch, Verhüllung und Enthüllung, Macht und Fließen) entstehen zahlreiche Übersetzungsmöglichkeiten des jeweiligen Themas in die Körpersprachen dieser Welt. Dass „Move“ zudem in verschiedenen europäischen Städten gedreht wurde, ermöglicht mehrere Zugänge auf ein und dieselbe Frage. Ebenso multiplizieren sich hierdurch die potenziellen Antworten. Daher mutet jede Folge ein wenig wie ein Essay an, der gleich mehrere Diskurse einbindet und unterschiedliche Perspektiven auf bestimmte Thesen eröffnet. Statt Partei für diese oder jene Position zu ergreifen, präsentiert die Sendung mögliche Handlungsszenarien und lässt den Zuschauer selbst entscheiden, welchen Standpunkt er zu Themen wie einer hochtechnisierten Zukunft, Migration und Nacktheit einnehmen möchte. Der tänzerische Bezug zu eben diesen Inhalten fehlt zu keinem Moment.

Während Tänzern bei „Move“ beispielsweise die Möglichkeit gegeben wird, mit ihrem eigenen Hologramm zu tanzen, wird gleichzeitig mit Spezialisten darüber diskutiert, ob Algorithmen künftig bestimmen werden, wie wir uns bewegen. In einer anderen Folge wird Verhüllung als Diskussionsinhalt nicht auf konventionelle Weise angegangen. Statt sie ausschließlich als Freiheitsberaubung anzusehen, zeigt das Format kreative Möglichkeiten auf, künstlerisch, aber auch persönlich an das Thema heranzutreten und ungeahnte Freiräume zu nutzen. In jener Folge, in der es um das Fließen geht, wird nicht nur das Tanzparkett geflutet, um darauf zu tanzen, sondern auch die berechtigte Frage gestellt, warum die Gesellschaft bis heute mit bestimmten Körperflüssigkeiten mehr Probleme hat als mit anderen. Besonders interessant ist die Ausgabe von „Move“, die sich mit Macht befasst. Hier werden sowohl relevante Bewegungen wie etwa der Kniefall von Warschau als auch Kampftänze besprochen. Bei Letzteren reiht sich der weltbekannte Haka-Tanz aus Neuseeland neben dem in der Hip-Hop-Szene geläufigen Battle ein. Die Sendung befasst sich nicht nur auf deskriptiver Ebene mit den Inhalten, vielmehr werden sie an der Wurzel gepackt und infrage gestellt.

Moderiert wird „Move“ von der luxemburgischen Tänzerin und Choreografin Sylvia Camarda, die die jeweiligen Gesprächspartner einerseits interviewt und andererseits in vielen Fällen das gerade Besprochene mit ihnen testet. Camarda trifft auf alte Kollegen, mit denen sie bereits gearbeitet hat, jedoch auch auf Personen, die sie quasi gemeinsam mit den Zuschauern kennenlernt. Durch die Kenntnis der Sachlage, aber auch durch ihre Mehrsprachigkeit gelingt es ihr, sich den Interviewten anzupassen. Die in den von Camarda eingesprochenen deutschsprachigen Voiceover verwendete Wortwahl unterscheidet sich jedoch sehr stark von jenen wenigen Momenten, in denen sie wirklich frei spricht. Auch hat Camarda bei den Interviews fast durchgängig Karten in der Hand. Es ist daher anzunehmen, dass, wie das ohnehin bei derartigen Fernsehformaten üblich ist, die Moderatorin nicht unbedingt den Hauptteil der redaktionellen Arbeit übernommen hat und sich mehr auf die Präsentation konzentrieren sollte. So übernimmt Camarda hier zwar scheinbar keine journalistische Arbeit, hat aber als Tänzerin in der Rolle der Moderatorin der Sendung den Vorteil, dass sie die dargelegte Theorie selbst schnell praktisch umsetzen kann. Sie versucht sich beispielsweise in der ersten Folge an den Aerial Straps des Performers Jonathan Fortin und begibt sich gemeinsam mit der Skydiverin Inka Tiitto in einen Windtunnel, um die dortigen Gegebenheiten zu untersuchen. Ein interessanter Zug von Lena Kupatz, den camard’schen Flummi in diesem Kontext einzusetzen. Ohne jeglichen Zweifel belebt sie das Storytelling über die sechs Folgen hinweg, stellenweise riskiert ihre relativ aufgedrehte, potenziell exzentrische Art aber etwas vom eigentlichen Thema abzulenken. Geschmackssache halt. Es tut der Sendung zumindest keinen direkten Abbruch. Denn dass Camarda immer etwas hyperpräsent wirkt, fordert den Zuschauer gewissermaßen heraus, es ihr gleichzutun. Das Herz des ein oder anderen Luxemburgers wird sicherlich höherschlagen, da zeitweilig Sequenzen aus Luxemburg zu sehen sind. Hoffen wir, dass die Freude über die Präsenz mehrerer luxemburgischer Künstlerinnen und Künstler auch so groß ist, wie jene über die Tatsache, dass man den Pfaffenthaler Lift mehrfach sieht.

Alles in allem wurde eine hervorragende und für das erweiterte Verständnis von Tanz wichtige journalistische Arbeit geleistet. Trotz seines Fokus auf Tanz besticht „Move“ durch seine Interdisziplinarität. Die Texte, die Camarda eingelesen hat, schaffen den Spagat zwischen Infotainment und essenziellen philosophischen Fragestellungen, ohne sich in einem von beidem zu verlieren. Die Kameraführung ist eher klassisch gehalten, in Zusammenspiel mit dem dynamischen, aber nicht zu hektischen Schnitt versteht sie es dennoch, den Zuschauer in den Bann zu ziehen. Der Einsatz von Archivmaterial sowie grafischen Elementen findet so statt, dass ein Mehrwert entsteht und Stimmigkeit herrscht. Der Rhythmus der Folgen geht auf, da man zwischen dem teils sehr intensiven Input immer wieder Momente hat, in denen man einfach nur Choreografien von Camarda oder anderen Tänzern beobachten kann. Obwohl sie definitiv Aufmerksamkeit verdienen und auch einfordern, schaffen sie einen Ruhemoment, um über das zu meditieren, was man soeben gelernt hat.

Fazit: absolut sehenswert!
Erstausstrahlung der Serie am 15. April.