Abgrundtief schön

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Die junge luxemburgische Choreografin Anne-Mareike Hess ist zurzeit mit ihrem neuesten Werk "Give me a reason to feel“ im Escher Theater zu Gast.

Es gibt diese Stücke, in die man nur schwer reinkommt, bei denen sich die unsichtbare Wand zwischen den Sitzreihen und der Bühne erst langsam selbst zerstört. Dann gibt es jedoch auch „Give me a reason to feel“, die neue Choreografie von Anne-Mareike Hess, bei der die Grenzen sofort verschwimmen und man ab der ersten Sekunde in einen unangenehmen Sog gerät.

Es ist auf einmal stockdunkel, vor sich erkennt man recht unscharf eine unebene helle Fläche. Man ist lediglich in Dunkelheit und bedrohliche Klänge gehüllt. Das Korsett wird kaum merklich immer fester zugeschnürt, so dass sich der durchaus mögliche Erstickungsprozess in die Länge zieht. Dank Surround-Sound-Anlage fühlt man sich nicht nur so, als würde jemand einem eine Faust ins zarte Antlitz schlagen, sondern gleichzeitig auch noch in den Rücken schießen.Das Kopfkino hat längst angefangen und könnte lynchesker nicht sein. Man ist gemeinsam verloren im Saal des Escher Theaters. Oder vielleicht in etwas, das noch viel größer und nicht räumlich fassbar ist.

Auch nachdem die Tänzer Rosalind Goldberg, Sunniva Vikør Egenes und David Kummer auf der Bühne sichtbar geworden sind, klart der emotionale Himmel nicht auf. Mehr Gestalt als Mensch irrt das Trio mit leerem und irgendwie doch auch ängstlichem Blick umher. Die drei agieren wie außer Kontrolle geratene Roboter. Oder so, als seien sie auf sehr starken Medikamenten, vielleicht sogar schlechten Drogen. (Und die wünscht man ja nun wirklich niemandem.)

Ab und an scheint es, als seien sie gelähmt, aber die Lähmung ist nicht vollständig, da noch ein gewisses Maß an Bewegung durchdringt. Die Annahme rückt näher, dass es ihre Gedanken sind, die, aus noch ungeklärtem Grund, in eine Schockstarre fielen. Bald möchte man meinen, sie würden an unsichtbaren Fäden hängen, während ein Puppenspieler entscheidet, dass sie nicht zueinander finden dürfen, sondern dazu verdammt sind, sich voneinander zu dis-tanz-ieren. Stellenweise kommt es einem so vor, als würden sie sich in unterschiedlichen (Denk-) Räumen bewegen, obwohl sie nur wenige Meter trennen.

All dies erinnert auf eine traurige Art und Weise an den „ganz normalen“ Alltag in einer Welt voller Egomanen, die im Gegensatz zu den Künstlern in diesem Stück (häufig) nicht mal tanzen, sondern den gesellschaftlichen Dancefloor mit ihrem hauseigenen Panzer niedermähen.

Exit over the dancefloor

Im Gegensatz zum wahren Leben hält „Give me a reason to feel“ jedoch etwas, das man mit der nötigen Übertreibung fast schon „Happy End“ nennen könnte, bereit. Den Tanzenden gelingt es, einen Weg zueinander zu finden. Man wird Zeuge eines Prozesses, der darin mündet, dass ohne einander keine Bewegung mehr möglich ist. So multipliziert sich nicht nur das Getanzte, sondern auch das Gefühlte.

Dieser Weg hin zu verloren geglaubten Gedanken und zur Auflösung des Tanztumults gestaltet sich äußerst spannend und gliedert sich thematisch in Hess’ Suche nach Antworten auf die Forschungsfrage „How do emotions form body?“ ein, der sie vor allem in diesem Jahr nachgegangen ist. Das Unfühlbare soll fühlbar werden, das Untanzbare tanzbar. In ihrem aktuellen Werk sowie auch in vorherigen Stücken (ganz besonders in „Tanzwut“) kommt Anne-Mareike Hess’ Affinität für Körperlichkeit zum Vorschein. Sie widmet sich dem Körper mit hoher Analysefähigkeit und versucht ihn in der Folge zu dekonstruieren. Desgleichen beschäftigt sie sich mit Zuständen, mentaler wie physischer Natur. Es soll herausgefunden werden, was Körper und Geist gefangen hält, um beide schließlich, teils tanzenden Schrittes, zu befreien.

Bei diesen Schritten steht allerdings nicht die Ästhetik im Vordergrund, Hess ist keine Gefälligkeits-Choreografin, die sich in erster Linie wünscht, das Publikum zu berieseln. Mit ihren Experimenten im Kontext des zeitgenössischen Tanzes testet Anne-Mareike Hess Grenzen aus und fordert somit auch das Publikum heraus. Die von ihr entworfene tänzerische Reise wird gekonnt vom Lichtdesign (Philippe Lacombe) sowie dem Soundbild (Marc Lohr) umrahmt. Indes weiß auch das simpel wirkende Bühnenbild (Mélanie Planchard), das aus einer riesigen, hauchdünnen Plastikplane besteht, zu faszinieren. Denn es behindert den Tanz auf unterschiedlichste Weisen, um dann später trotzdem auch mit den Tänzern zu verschmelzen.

Vorstellungen am:
29. und 30.11. im Grand Théâtre de la ville de Luxembourg