Das fehlende Element im Kapitalismus: Wie der Nobelpreisträger Yunus die Armut ausradieren will

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Muhammad Yunus setzt sich dafür ein, dass sich das fehlende Element im Kapitalismus entfalten kann. Dadurch könne man seiner Meinung nach die Armut bekämpfen. Auch Luxemburg könnte einen Beitrag dazu leisten.

Tageblatt: Kann man Armut in unserem kapitalistischen System eigentlich ausradieren? Was ist Ihre Formel?
Muhammad Yunus: Das ist sehr schwierig. Wir haben das probiert. Im kapitalistischen System spielt alles gegen die Armen. Auch das Bankensystem, weil es den Armen keine Dienstleistungen anbietet. Fast die Hälfte der Menschen hat keinen Zugang zu Bankdienstleistungen. Diese Menschen brauchen Geld, um sich etwas aufbauen zu können, aber sie haben keinen Zugang zu den Banken. Das macht sie zu Opfern von dubiosen Finanziers, die fünfzig-, hundert- oder tausendprozentige Zinsen auf das geliehene Geld verlangen. Da sie von den Banken nichts kriegen, gehen sie auf die Deals mit den hochprozentigen Zinsen ein. Das ist ein Grund.

Zur Person: Muhammad Yunus …

… wurde 1940 im ehemaligen Bengalen in Indien (heute: Bangladesch) geboren. Er wuchs in einer muslimischen Familie auf. 1983 gründete der Wirtschaftswissenschaftler das Mikrofinanz-Institut Grameen Bank. Yunus gilt als einer der Pioniere der Mikrofinanz. 2006 erhielt er dafür den Friedensnobelpreis.

Ein anderer Grund ist, dass die Gesellschaft ihnen nur wenig Aufmerksamkeit widmet. Jeder verfolgt seine eigennützigen Ziele. Im weiteren Verlauf kann diese Vorgehensweise auch Schaden anrichten.

Nach dem Motto: Ich zerstöre alles, um das zu bekommen, was ich will. Und so ist das Umweltproblem entstanden. Denn das Umweltproblem ist eine Kreation des Wirtschaftssystems. So nutzen wir weiterhin fossile Energie, zerstören Wälder, produzieren Plastikmüll. Wenn das System so bleibt, dann wird es sehr schwierig, die Menschheit von Armut zu befreien. Sie kann vielleicht etwas eingedämmt, aber nicht völlig ausradiert werden. Es ist wie ein Spiel, es geht auf und ab. Es gibt keine klare Linie in eine Richtung.

Aber wenn man neue Ideen angeht, um das Problem im kapitalistischen System zu lösen, dann öffnet sich eine neue Dimension. Dann wird es einfach, das Ziel zu erreichen.

Was sind denn diese neuen Ideen?
Zum Beispiel gibt es einerseits Business zum Geldmachen und andererseits Business zum Probleme-Lösen. Damit wird es sehr effizient. Dann öffnet es sich für jeden. Zweitens sind Menschen Unternehmer. Man sollte die Menschen entscheiden lassen, entweder für einen anderen zu arbeiten oder selbst Unternehmer zu werden. Doch diese Auswahl existiert in Wirklichkeit nicht. Unser Erziehungs- und Wirtschaftssystem sagt, wenn du keinen Job bekommst, dann bist du erledigt. Dann muss der Staat dir Geld geben, damit du überlebst. Das ist nicht die Lösung. Die Lösung ist folgende: Gib den Menschen einen Kredit und lass sie zum Unternehmer werden. Aber im System wird nicht darüber gesprochen. Das ist ein weiterer Grund, wieso uns das kapitalistische System nicht viel nützt.

Und da kommt nun die Grameen Bank ins Spiel, für deren Gründung Sie 2006 den Friedensnobelpreis erhalten haben.
Da das bestehende Banksystem für viele nicht funktioniert, habe ich ein alternatives Banksystem für diese Menschen ins Leben gerufen. Das ist die Grameen Bank. Es macht alles anders als eine traditionelle Bank. Letztere geht zu den Reichen, die Grameen Bank zu den Armen. Die traditionelle Bank gibt Kredite an Männer, die Grameen Bank an die Frauen. Erstere befinden sich meist in den Städten, die Grameen Bank in den Dörfern. Eine traditionelle Bank fragt nach Sicherheiten, bevor sie einen Kredit vergibt. Die Grameen Bank nicht. Denn das würde alles zerstören. Wir arbeiten auf Vertrauensbasis. Und das funktioniert. Nicht nur in Bangladesch, sondern auch überall sonst auf der Welt. Man hat uns das nicht geglaubt, dass wir Business für die armen Leute machen können. Wir haben Jahr für Jahr aufs Neue bewiesen, dass es klappt. Aber trotzdem hat sich das traditionelle Bankenwesen nicht verändert. Das ist mein Problem. Jeder findet es toll, nachdem wir es bewiesen haben, aber niemand tut es.

Glauben Sie, dass Luxemburg als Finanzplatz daran interessiert wäre?
Natürlich. Das ist ein guter Ort, um das zu starten. In der Vergangenheit hat Luxemburg bereits Interesse an der Mikrofinanz gezeigt. Aber Mikrofinanz innerhalb des Rahmens konventioneller Finanzierung. Wir wollen aber was anderes. Wir haben Mikrofinanz als soziales Business definiert. Das heißt, wir wollen kein Geld mit den Armen verdienen. Wir wollen das auf eine nachhaltige Weise tun, um die Kosten zu decken, und probieren diese Kosten so niedrig wie möglich zu halten. Aber wir wollen nichts daran verdienen.

LINK Lesen Sie zum Thema auch unseren Kommentar

Wir haben Mikrokredite als „soziales Business“ definiert. Dann sagen viele, ah, das mit den armen Leuten ist eine gute Gelegenheit für uns, Geld zu verdienen. Denn es gibt ja Milliarden Arme. Da sieht man, wie etwas im Überlegungsprozess dieser Menschen falsch läuft. Das ist nicht die Mikrofinanz, von der wir reden. Ich sage: Helft den Leuten mit Mikrokrediten aus der Armut heraus und dann könnt ihr so viel Geld mit ihnen machen, wie ihr wollt. Wieso muss man so gierig sein, dass man sogar Geld mit den Ärmsten der Armen verdienen muss? Für diese Leute ist ein Penny so viel wert, für uns nicht.

Sie vergeben Mikrokredite vor allem an Frauen. Wieso?
Ich habe bei meinem Vortrag im Forum StandSpeakRiseUp! das Bankensystem kritisiert. Die machen vorzugsweise Geschäfte mit reichen Männern. In Bangladesch werden 99 Prozent der Kredite an Männer vergeben. Ich habe mir dann gesagt: Wenn ich eine alternative Bank gründe, dann möchte ich, dass die Hälfte der Kreditnehmer Frauen sind. Das konnte ich anfangs nicht durchsetzen, weil die Frauen mir dann gesagt haben, geben Sie mir das Geld nicht, geben Sie es meinem Mann. Das System hat den Frauen das Gefühl vermittelt, dass sie nicht gut genug seien, um Geld geliehen zu bekommen. Wir müssen die alten Verhaltensregeln in den Köpfen der Menschen ändern, bis die Leute überzeugt sind, vielleicht sollte ich das mal versuchen. Der Mentalitätswechsel hat stattgefunden.

Das war auch zum Stärken der Frauen?
Ja, natürlich stärkt das die Frauen. Und die Beziehung zwischen Mann und Frau ändert sich völlig. Bisher war der Mann der einzige Versorger. Und die Frau war von ihm abhängig. Das bedeutet, dass der Ehemann die Frau füttert. Es ist wie eine Abhängigkeitsbeziehung. Nach dem Motto: Er darf sie schlagen, aber sie muss das tolerieren, weil er sie durchfüttert. Ich habe mir gedacht, das kann doch nicht sein. Sie kann ihn doch auch durchfüttern. Dadurch, dass die Frauen nun auch Versorger sind, gleichen sich die Beziehungen an. Das bringt die beiden näher zueinander. Die Familie wird zum Team. Und das dringt auch zu den Kindern über. Sie sehen die gleichberechtigte Beziehung ihrer Eltern und werden das später auch so tun.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, wo Mikrokredite den Menschen geholfen haben, sich eine eigene Existenz aufzubauen?
Reiche Leute haben mir früher gesagt, arme Leute haben doch keine Qualifikation, wieso gibst du ihnen Geld? Ich habe dann gesagt, die wissen alles. Dann habe ich diese reichen Leute gefragt: Wer kocht dir das Essen? Der Koch. Kochen, das ist eine Fähigkeit, eine Qualifikation, sagte ich. Wer kümmert sich um deine Tiere? Das sind meist arme Leute, die das tun. Das ist ebenfalls eine Fähigkeit. Der Unterschied ist nur, dass du die Tiere besitzt und er nicht. Deshalb arbeitet er für dich. Weil du nicht weißt, wie das geht. Er aber schon. Wenn ich ihm die Möglichkeit gebe, sich selbst Tiere zu kaufen, dass kann er sich um seine eigenen Tiere kümmern. Ihm gehört dann das Huhn und das Ei, das es legt. Er kann das Ei verkaufen und verdient daran. Mit dem Geld kann er in der Anfangsphase der Bank seinen Kredit zurückzahlen und danach den Gewinn ganz für sich beanspruchen.

Ein anderes Beispiel ist das mit den Kutschern früher in Bangladesch. Sie fuhren mit einer Kutsche, die ihnen nicht gehörte.
Die Kutschen gehörten einem reichen Mann, der keine Ahnung hat, wie man eine Kutsche fährt. Er investiert nur in die Kutsche. Das heißt, er kauft sie und vermietet sie an die Kutscher. Rechnet man die Miete, die die Kutscher an den reichen Mann zahlen, auf ein Jahr hoch, dann könnten sie sich stattdessen eine eigene Kutsche kaufen. Und wenn man seine eigene Kutsche besitzt, dann muss man keine Miete mehr zahlen und hat mehr für seine eigene Tasche. Also statt der Miete an den reichen Mann zahlt man ein Jahr lang die gleiche Summe an die Bank und die Kutsche gehört einem danach selbst. Nachdem der Kredit abgezahlt ist, geht der ganze Gewinn in die eigene Tasche.

Haben Sie ein negatives Beispiel, wo Mikrofinanz nicht funktioniert?
Ja. Wenn die Leute in die falsche Richtung gehen. Zum Beispiel, wenn sie schneller reich werden wollen. Wenn sie mit dem durch Mikrofinanz geliehenen Geld noch mehr Geld leihen, bei einem dubiosen Financier zu Wucherzinsen. Am Ende kommen sie nicht mehr aus der Zinsspirale raus, verschulden sich und haben letztendlich nichts mehr außer Schulden. Genau diese dubiosen Financiers wollen wir ja durch die Mikrofinanz ersetzen. Das ist das Problem.

Eine andere Sache ist, dass der Kreditnehmer nichts einbringt. Deshalb werden alle Mikrokredite über NGOs vergeben. Aber die NGOs können das Mikrokredit-Programm nicht mehr weiterführen, wenn jemand seinen Kredit nicht zurückzahlt. Denn NGOs können kein Geld erwirtschaften. Das ist anders als bei herkömmlichen Banken.

Eine Bitte an Luxemburg

Das Interview mit Muhammad Yunus fand im Rahmen des StandSpeakRiseUp!-Forums (Bericht zum Forum siehe „T“ vom 29. März) vergangene Woche statt, wo der Friedensnobelpreisträger von 2006 als Redner auftrat. Das zentrale Thema des Forums war die sexuelle Gewalt an Frauen in Kriegsgebieten. Yunus sagte dem Tageblatt, dass das Forum die Gelegenheit war, das ganze Wissen über das Thema sexuelle Gewalt in Kriegsgebieten zusammenzutragen.

Das Wichtigste sei aber nun die Aktion, die folgen muss, um die Problematik zu lösen. In einer Konferenz könne man nicht alles tun. „Das erste Forum ist dazu da, das Anliegen zu verstehen. Es müssen also weitere Foren folgen“, so Yunus. Für ihn sollte es aber nicht nächstes Jahr zur gleichen Zeit am gleichen Ort mit den gleichen Leuten stattfinden. Das Ganze müsse sich weiterentwickeln, in anderen Städten und mit anderen Teilnehmern. „Der Druck, etwas Neues zu finden, um die Sache voranzutreiben, kann Früchte tragen“, sagt Yunus und schlägt vor, das Forum in einem anderen Land zu organisieren, wo es Probleme gibt, wie beispielsweise im Südsudan, in Ruanda oder im Kongo. „Dann sieht man die wahre Situation vor Ort. Dann sieht man auch die Fortschritte in jenem Land“, sagt Yunus.

Ein anderes wichtiges Anliegen für Yunus ist die Schaffung eines „sozialen Business-Fonds“ in Luxemburg. Damit könne man die finanziellen Probleme der „Survivors“, deren Kinder und Familien lösen. So könnten diese Frauen, die alles verloren haben, sich wieder eine Existenz aufbauen, ohne sich um die Finanzierung sorgen zu müssen. Bei einem „sozialen Business-Fonds“ bekommen laut Yunus die Investoren ihr Geld wieder zurück. Der Fonds recycelt sich sozusagen wieder.