Wiederentdeckung eines „verlorenen Sohns“ – Der Bildhauer Jean Mich im MNHA

Wiederentdeckung eines „verlorenen Sohns“ – Der Bildhauer Jean Mich im MNHA

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Breitbeinig und mit in die Seiten gestemmten Armen präsentiert er sich: Jean Mich, Bildmittelpunkt einer Fotografie, aufgenommen in seinem Atelier im chinesischen Hanyang um 1911. Dem direkten, offenen Blick kann sich der Besucher des „Musée national d’histoire et d’art Luxembourg“ beim Betreten der Ausstellung nicht entziehen. Ihn erwartet die erste große Retrospektive eines der bedeutendsten Luxemburger Bildhauer der Belle Epoque.

Von Martina Kaub

Fast könnte man die Körperhaltung des Künstlers als konfrontativ deuten – angesichts der Tatsache, dass ihm das Großherzogtum lange die gebührende Anerkennung verwehrt oder ihn nach seinem Tod schlicht vergessen hat. Und dies, obwohl der in der renommierten „Ecole nationale supérieure des beaux-arts“ in Paris ausgebildete Jean Mich nicht nur zahlreiche private Auftragsarbeiten fertigte, sondern auch Projekte im öffentlichen Raum realisierte. So zum Beispiel das repräsentative Eingangsportal der Sparkasse auf der place de Metz in Luxemburg-Stadt aus dem Jahr 1912. Es wird von zwei monumentalen Skulpturen, den römischen Gottheiten Merkur und Ceres, flankiert. Sie reflektieren das Gebäude und seine Funktion, indem sie auf Handel und Landwirtschaft verweisen und damit auf wesentliche Wirtschaftsfaktoren der Zeit. Auch Denkmäler zu Ehren berühmter Luxemburger und die künstlerische Gestaltung von Grabmälern hat er geschaffen.

INFO

Jean Mich (1871-1932)
Un sculpteur luxembourgeois à Paris
Musée national d’histoire et d’art Luxembourg
18.10.2018 – 31.3.2019

Nun hat das MNHA die Herausforderung angenommen, dem mehrfach ausgezeichneten Bildhauer und Porträtisten – 1902 Erster Preisträger des Großherzog-Adolf-Preises des „Cercle artistique de Luxembourg“, Medaille 3. Klasse beim „Salon des artistes français“ u.a.m. – eine große Ausstellung zu widmen, und dafür eine multiperspektivische Herangehensweise verfolgt.

Die zusammengetragenen persönlichen Zeugnisse wie Briefe und Postkarten sowie die rund fünfzig Kunstobjekte – zum großen Teil aus Privatbesitz, 19 Werke aus der Sammlung des MNHA – sind das Ergebnis mehrjähriger intensiver Recherchen: Nachkommen von Zeitgenossen Jean Michs wurden befragt, in Archiven und historischen Dokumenten wegentscheidende biografische Stationen ermittelt, die wichtigsten in einer übersichtlichen Zeitleiste dargestellt. Auch wenn, so die Vermutung der Kuratoren, es in Luxemburg, Frankreich und Belgien noch viele Werke, vor allem Büsten, in privaten Sammlungen geben dürfte, die nicht in die Ausstellung einbezogen werden konnten, eröffnet das präsentierte Konvolut einen neuen Zugang zum Werk dieser faszinierenden Persönlichkeit.

Mensch im Mittelpunkt

Bereits das Frühwerk in Form einer ganzfigürlichen Darstellung der Eltern (Bleistift/Kohle auf Papier) oder kleine Bronzetafeln mit Schutzengel- und Andachtsmotiven lässt auf eine vielseitige Begabung schließen. Zweifellos ist Jean Mich zuallererst ein Porträtist, der seine Kunst in unterschiedlichen Materialien und Kunstobjekten entfaltet: von Medaillen und Medaillons über Figurinen und Büsten bis zu vollplastischen Skulpturen, zu einem großen Teil aus Bronze, anderes in Terrakotta, Sandstein oder Marmor.

Denn es ist die menschliche Physiognomie, die Jean Mich während seines gesamten künstlerischen Schaffens immer wieder in den Bann gezogen hat. Er hat sie studiert bis in kleinste Details, feine Mimikfalten auf Wangen, Stirn, im Spiel der Lippen und Augen. Sprechende Gesichter, in denen sich eine innere Haltung widerspiegelt; Stimmungen, mal kontemplativ und introvertiert, mal ganz der Umgebung zugeneigt.

Als Meister des Jugendstils gelingt ihm auch die bewegte Körperdarstellung mit geschwungenen Linien, gegenläufigen Kurven und dekorativen Elementen, wie sie in der lebensgroßen Skulptur des Mädchens mit den Rosen fast überschwänglich zum Ausdruck kommt. Die florale Formensprache, die vielfache Fältelung des Kleides mit linksseitigem hohem Schlitz offenbaren zusammen mit dem Lächeln im Gesicht der Figur große Lebensfreude. Vorzüglich in der Ausstellung präsentiert sind die Büsten zu den Lebensaltern, Kindheit und Jugend kontrastieren mit Reife und Alter. Auch das Gegensatzpaar sozialer Wohlstand und Armut kann ausgemacht werden, wenn man die Arbeiten des weit gereisten Jean Michs mit Chinabezug im zweiten großen Saal des MNHA betrachtet.

Vor dem Hintergrund des damaligen Ausbaus der Eisen- und Stahlindustrie war Mich von dem Luxemburger Ingenieur Eugène Ruppert, Leiter des Stahlunternehmens Hanyang Iron and Steel Works, mit einem Ehrenmal für den verstorbenen Vizekönig Zhang Zidong beauftragt worden. Dieses Denkmal blieb zwar unvollendet, dafür hat der Bildhauer den Alltag der Chinesen aufmerksam beobachtet und sie in verschiedenen Lebenssituationen festgehalten: den fröhlichen, abenteuerlustigen „Hankow Dandy“, die Bettlerin mit flehendem Blick in zerlumpter Kleidung, ein weinendes Kind im Arm haltend, den breit lachenden Tagelöhner („Coolie“) am Zahltag oder den – auch in Luxemburger Schaufenstern zu findenden – Koch Rupperts, Chih-Fan. In unterschiedlichen Größen und Materialien angefertigt, wurde diese Büste von der Pariser Gießerei Susse Frères sogar in Serie hergestellt. Für das Großherzogtum stellt die Wiederentdeckung Jean Michs eine große Bereicherung dar.

Der Ausstellung ist ein starkes Publikumsinteresse zu wünschen.