„Wer schwarz ist, geht zurück“: Rassistische Populisten mischen Estlands Politik auf

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Solche Provokationen hat das ruhige Estland schon lange nicht mehr gesehen. Da forderten eines Morgens in der Hauptstadt Tallinn an der zentralen „Hobujaama“- Tramhaltestelle große Plakate die Pendler auf, sich je nach Nationalität entweder in russische oder estnische Schlangen zu stellen. Russen sollten unter sich auf die Trams warten, Esten ebenso.

Von unserem Korrespondenten Paul Flückiger, Warschau

Initiator der höchst professionellen Plakataktion ist die neue Rechtspartei „E200“. Vor ein paar Tagen wiederum zogen Tausende mit Fackeln durch Tallinn und forderten Maßnahmen gegen das angebliche „Aussterben“ der Esten. Der gespenstische Fackelzug nannte sich „Blaues Erwachen“ und zog EU-skeptische Redner an, darunter den Parteichef der rechtspopulistischen „Estnischen Volkspartei“ (EKRE), Mart Helme. „Unsere Einwanderungspolitik sollte eine klare Regel haben: Wer schwarzer Hautfarbe ist, geht sofort zurück“, sagt Helme und begeistert damit seit sieben Jahren immer mehr Esten.

Bei den Parlamentswahlen vom Sonntag kann seine Partei mindestens mit einer Verdoppelung der Stimmen zählen. Die EKRE würde damit zur Königsmacherin in Estland. Weshalb der Streit um Immigranten und russische Minderheit derart wichtig geworden sind, können sich nicht einmal Politologen in Estland erklären. Dem nördlichsten neuen EU-Staat geht es mit einem Wirtschaftswachstum von 4,9 Prozent sehr gut. Die bisherige Mitte-links-Regierung unter dem jungen Premierminister Jüri Ratas hat in den letzten drei Jahren Steuern für Familien und Unternehmen gesenkt und viel für den sozialen Ausgleich unternommen. Dennoch knirscht es im estnischen Gebälk.

Der kleinen ehemaligen Sowjet-Republik, im Ausland vor allem wegen ihrer IT-Firmen und der internetgestützten modernen Verwaltung bekannt, bescherte die Diskussion über den UNO-Migrationspakt von Marrakesch Ende 2018 einen wahren Aufruhr. Wochenlang kam es zu Demonstrationen gegen Flüchtlinge und Migranten, fast wäre darüber auch die Regierungskoalition gestolpert. Am Ende wurde das UNO-Dokument entgegen vorheriger Ankündigungen nicht unterschrieben.

Die wahren Probleme sind jedoch nicht Flüchtlingsquoten, sondern die hausgemachte Emigration. So sind seit dem EU-Beitritt 2004 über 100.000 Esten ausgewandert, das ist immerhin jeder 13. Einwohner des kleinen Landes. Viele vor allem junge Esten suchten ihr Glück in Großbritannien und Skandinavien, wo die Löhne viel höher sind. Die Auswanderungswelle ist so groß, dass in Estland selbst immer mehr Hände fehlen. Vor allem Fach- und Bauarbeiter werden dringend gesucht.

Abhilfe schaffte sich die Regierung Ratas 2018 mit Tausenden von Aufenthaltsbewilligungen für Arbeiter aus der Ukraine. Doch der Zuzug von slawischen Einwohnern empörte breite Kreise der estnischen Gesellschaft. Viele fühlten sich an die sowjetischen Russifizierungswellen erinnert. Damals wurden Esten zwangsweise nach Sibirien verschickt, ihre Plätze nahmen ebenfalls oft zwangsweise vom Kreml nach Estland auf Arbeitsstellen verschickte Russen ein. Eine freie Arbeitsplatz- und Wohnortwahl gab es in der von Moskau dominierten Sowjetunion praktisch nicht.

Heute finden sich deshalb in allen drei Baltenstaaten große russische Minderheiten. In Estland ist jeder vierte Einwohner Russe, dazu kommen nach der sowjetischen Besatzung zugezogene Ukrainer (2 Prozent) und Weißrussen (1 Prozent). Die Esten selbst machen 68,7 Prozent der Bevölkerung aus.

Koalition mit EKRE ausgeschlossen

Dies fördert jene Unsicherheiten, auf denen Rechtsparteien wie „E200“ und die populistischere EKRE ihr ganzes Programm aufbauen. EKRE-Parteiführer Mart Helme, der immer zusammen mit seinem Sohn Martin auftritt, fordert mit Erfolg Steuererleichterungen für jedes neugeborene estnische (nicht russische) Kind, eine weitere Stärkung der estnischen Sprache in der Schule, höhere Offiziersränge und den Zugang zu Geheimdokumenten der Armee nur für Esten „reinen estnischen Blutes“ und ähnliches.

Die rechtspopulistische Partei EKRE dürfte damit laut den jüngsten Umfragen auf mindestens 16 Prozent der Stimmen kommen. Auch die gemäßigter auftretende Parteineugründung „E200“ dürfte die Fünf-Prozent-Hürde überspringen. Beide Parteien werden das Gleichgewicht zwischen Konservativen und sozialdemokratisch gesinnten Kräften aufmischen.

Um die Spitzenränge kämpfen am Sonntag nämlich die regierende eher linke Zentrumspartei (26 Prozent gemäß den letzten Umfragen) und die rechtsliberale Reformpartei (29 Prozent). In den Riigikoku, das estnische Parlament, dürften es dazu noch die Sozialdemokraten (10 Prozent) und die konservative „Isaama“ (Vaterland) (9 Prozent) schaffen. Alle etablierten Parteien haben im Vorfeld eine Koalition mit Helmes rechtspopulistischer EKRE ausgeschlossen. Politische Beobachter in Tallinn gehen nicht zuletzt deswegen von einer schwierigen Regierungsbildung aus.