Vom Kamillentee zum Torrekord

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Raus aus dem tristen Alltag, rein in ein ungewöhnliches Projekt: Der 41-jährige Matt Walker ist gerade dabei, sich einen seiner Träume zu verwirklichen. Statt täglich Büroschichten für die englische Regierung zu schieben, reist er auf eigene Faust quer durch ganz Europa und besucht ein Jahr lang Erstliga-Matches in allen 55 UEFA-Nationen. Die Escher Fola verhalf ihm dabei zu einem unerwarteten und surrealen Rekord.

Lässiges „Ramones“-Shirt, manchmal mit Bier und Fotoapparat in den Händen, schlaksiger Gang und eine besonders ausgeprägte Liebe zum Fußball: Der Engländer Matt Walker repräsentiert nicht gerade den typischen Bilderbuch-Regierungs-Analytiker. Der Fulham-Fan verbrachte in den letzten zehn Monaten über 210 Nächte in Hotels. Aber nicht wegen des Teams, an das er sein Herz verlor, sondern um sein „55 Football Nations“-Projekt durchzuziehen. Immerhin besucht er zwischendurch noch acht Fulham-Spiele. Mit seinem Dreitages-Trip nach Luxemburg hakte er am Osterwochenende Nummer 50 der insgesamt 55 UEFA-Nationen ab. Fehlen noch Slowenien, Ungarn, Kroatien, Bosnien und Montenegro. Nach fünf Tagen im heimischen London begibt sich der 41-Jährige, für den Gary Lineker übrigens der beste Fußballer aller Zeiten ist, in wenigen Tagen auf den letzten dreiwöchigen Trip.

Die Kosten

„Die Idee stammt von Weihnachten 2015. Ich wollte damals etwas Neues mit meinem Leben anfangen. Deshalb habe ich dann auch angefangen, Geld beiseitezulegen und mich um den Papierkram für das arbeitsfreie Jahr zu kümmern.“ Gesagt, getan. Am 2. Juni 2017 sieht Walker, wie sich Lokomotiv Tbilisi mit 2:0 bei Dila Gori durchsetzt, Länderpunkt Georgien. Sponsoren für sein Projekt gibt es nicht: „Hier in Esch hat man mich umsonst ins Stadion gelassen, aber das macht eigentlich bei einer Übernachtung in Luxemburg nicht wirklich einen Unterschied. Die Hotels sind am teuersten.“ Stolz berichtet er über das Flugticket-Schnäppchen zurück nach England, die Gesamtkosten von 55 Football Nations gibt er dagegen nicht preis.

Belgien, Luxemburg und Deutschland standen eigentlich als eine Art Dreierpack für November auf seinem Programm, doch die kurzfristigen Terminänderungen hierzulande machten ihm einen Strich durch die Rechnung: „Normalerweise versuche ich immer, mehrere Länder zu kombinieren. Aber mit Luxemburg gab es letztes Jahr ein Problem. Ich war freitags in Belgien, sonntags in Deutschland. Ich hatte die beiden Spiele bereits durchorganisiert und wollte samstags hierherkommen. Laut dem, was ich im Internet fand, sollte ja auch ein Spiel an diesem Tag stattfinden. Aber nur sieben oder acht Tage vor der Reise wurde der Spielplan plötzlich geändert. Für die Partie in Mönchengladbach hatte ich alles vorbereitet und deshalb buchte ich alles um …“

Elf Stunden

Er fügte hinzu: „Deshalb ist meine Reise diesmal auch total verrückt. Ich bin wahrscheinlich der erste Mensch, der an einem Tag von San Marino nach Luxemburg gereist ist.“ Elf Stunden dauerte die Reise bis zum Hotel nach Luxemburg, wo er für zwei Nächte eingecheckt hatte. Diesmal hatte das Schicksal es gut mit ihm gemeint: Vor dem Rückflug am Samstagabend reicht die Zeit sogar für einen weiteren Leckerbissen in Niederkorn.

Auf dem Galgenberg angekommen bestellt er sich – „englishlike“ – einen Kamillentee und hält gleich Ausschau nach „dem Sohn von Mustapha Hadji. Bei 55 Ländern kann man eigentlich nicht viel Recherchen im Vorfeld machen, aber ich versuche immer, mich mit dem anstehenden Spiel auseinanderzusetzen. Und am Saisonende schaue ich dann, wie die Mannschaften abgeschnitten haben.“

Im „kleinen Derby“ machten die Hausherren bekanntlich kurzen Prozess mit dem Aufsteiger. Verblüfft erklärte Walker: „Wahnsinn, das waren jetzt 18 am Stück! Das muss ein Rekord sein. Ich werde gleich mal auf Twitter nachfragen, ob schon jemand das geschafft hat.“ In San Marino war er letzte Woche einer von 25 Menschen, die den 8:1-Sieg von Virtus gesehen haben.

Kuriositäten gab es in den letzten Monaten aber noch andere: Von überdrehten Anhängern in Serbien bis zu einem Treffer in Weißrussland: „Dort hat der Torwart aus dem Spiel heraus getroffen. Er wurde danach unter seinen Mitspielern begraben. Leider haben das nur 700 Menschen – und ich – live erlebt. Aber man kann sich das Video auf Youtube ansehen.“ Um nichts zu vergessen, notiert sich Walker die Schlüsselszenen und resümiert sie in seinem Blog. Politische Risiken gab es laut dem Engländer nie, lediglich vor Spielabsagen und georgischen Busfahrern hätte er Angst gehabt: „In Georgien fahren die Menschen wie Verrückte, einige waren betrunken und die Straßen sind schlecht. Der öffentliche Transport war das Gefährlichste. Mit Englisch kommt man schon sehr weit, allerdings wäre es wohl besser gewesen, meine Russischkenntnisse aufzubessern“, meint er im Nachhinein. Dieses Extrem-„Groundhopping“ sei ohnehin nichts für jeden: „Die 55 alle in einem Jahr durchzuziehen, ist eine gute Story, das erweckt Aufsehen. Aber für viele Menschen macht es wohl mehr Sinn, sich mehr Zeit dafür zu nehmen. In einem Jahr muss man die finanziellen Mittel haben und in der Lage sein, sich in kürzester Zeit auf die kulturellen Gegebenheiten der jeweiligen Länder umzustellen.“

Beeindruckt

Trotzdem, auch von Luxemburg war Walker begeistert: „Es war toll zu sehen, dass die Fola trotz eines sicheren Siegs weiter nach vorne gespielt hat. Kirch, Hadji, Klapp und Lopes haben mich beeindruckt, die US Esch war dagegen grottenschlecht. In Niederkorn herrschte eine richtige Topspiel-Stimmung. Und wieder gab es schnellen Offensivfußball. De Sousa, Stolz, Sinani und Turpel stachen heraus, schade allerdings dass das Spiel und möglicherweise auch die Meisterschaft durch so einen schlimmen Torwartfehler entschieden wurden.“

Nächstes Jahr erscheint übrigens das Buch von Walker, in dem er mit Sicherheit auch auf die 13 Tore eingehen wird, die er in der BGL Ligue gesehen hat.

Internet: www.55footballnations.com