Verkehrsopfer-Präsident Schintgen: Wegfahrsperren, hohe Geldstrafen – und keine Toleranz für Alkohol am Steuer

Verkehrsopfer-Präsident Schintgen: Wegfahrsperren, hohe Geldstrafen – und keine Toleranz für Alkohol am Steuer

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Das Leben von Bridget Driscoll, geboren 1851, endete am 17. August 1896 in London. Todesursache war ein Verkehrsunfall mit einem motorisierten Fahrzeug. Die 44-jährige starb an ihren schweren Kopfverletzungen, nachdem sie von einem Automobil mit einer Geschwindigkeit von etwa 6 km/h erfasst worden war.  Der damalige Untersuchungsrichter Percy Morrison erklärte nach dem Abschluss des Verfahrens: Er hoffe, dass so etwas nie wieder passieren würde. Bridget Driscoll gilt weltweit als erster Verkehrstoter durch ein Motorfahrzeug. 

Von André Feller

Der Wunsch von Richter Morrison ging nicht in Erfüllung. Laut der WHO sterben jedes Jahr 1,2 Millionen Menschen im Straßenverkehr. Die Anzahl der Verletzten wird auf jährlich etwa 40 Millionen geschätzt. In Luxemburg starben 2018 insgesamt 35 Menschen an den Folgen eines Verkehrsunfalls, zehn mehr als 2017, und dies trotz Radargeräten. Für Raymond Schintgen, Vorsitzender der „Association nationale des victimes de la route“, kurz AVR, sind die Hauptursachen für Unfälle nach wie vor überhöhte oder unangepasste Geschwindigkeit sowie das Fahren unter Alkohol- und Medikamenteneinfluss. Letzteres sei zwar weniger bekannt, aber nicht zu unterschätzen, so Schintgen im Tageblatt-Gespräch.

Tageblatt: Die „Association nationale des victimes de la route“ betreut die Verkehrsopfer und deren Angehörige. Die Kosten für diese Betreuung werden nur teilweise vom Familienministerium getragen. Wie steht es um die finanzielle Zukunft der AVR angesichts der steigenden Opferzahlen?

Raymond Schintgen

Seit Ende April 2014 ist Raymond Schintgen der Vorsitzende der „Association nationale des victimes de la route“. Vor 31 Jahren, auf dem Weg zur Schule, hatte er einen schweren Verkehrsunfall. Damals war er 18 Jahre alt. Seit dem Tag ist er querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl.

Raymond Schintgen: Seit über einem Jahr informiert die Polizei aufgrund einer EU-Direktive die Opfer von Verkehrsunfällen über unser Dienstleistungsangebot. Demnach stehen wir vor einer neuen Herausforderung, die wir mit den aktuell zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln nicht bewältigen können. Wir hoffen, dass die politischen Entscheidungsträger, sprich das Familien- und Gesundheitsministerium, unseren Hilferuf verstanden haben und die AVR künftig finanziell verstärkt unterstützen.

Der Vorstand der AVR wendet sich regelmäßig mit neuen Forderungen an das Transportministerium. Welche vorsorgliche Maßnahmen sehen Sie als angebracht, um die Anzahl der Verkehrsopfer zu reduzieren?

An erster Stelle plädieren wir für eine Alkohol-Wegfahrsperre. Das ist eine technische Einrichtung, die eine Autofahrt unter Alkoholeinfluss verhindert. Dies können wir als Land nicht im Alleingang tun. Vielmehr bedarf es hier einer europa- oder gar weltweiten Lösung, in die auch die Automobilkonzerne mit eingebunden sind.

Der zweite Punkt ist die überhöhte Geschwindigkeit. Die Mehrzahl der Autofahrer interessiert ein Tempolimit nicht. Geschwindigkeitsüberschreitungen inner- und außerorts stehen an der Tagesordnung. Geschwindigkeitskontrollen jeglicher Art, ob fix, mobil oder auf einem Streckenabschnitt, sind unabdingbar. Wir sind der Meinung, dass in diesem Punkt die Automobilhersteller gefordert sind, um die Geschwindigkeit der Fahrzeuge automatisch auf die gesetzlich vorgeschriebenen Tempolimits zu drosseln.

Als AVR-Vorsitzender plädieren Sie für eine Nulltoleranz bei Alkohol am Steuer. Kontrollen und drastische Strafen sind eine Sache. An welche anderen Lösungen denken Sie?

Ich möchte unterstreichen, dass wir keine Moralapostel sind. Als AVR verstehen wir schon, dass die meisten Leute in Gesellschaft gerne alkoholische Getränke konsumieren. Dennoch sollte sich vor dem Konsum jeder die Frage stellen, wie er nach Hause kommt. In einer Gruppe kann man sich auf einen Fahrer einigen, der an jenem Abend keinen Alkohol konsumiert. Eine andere Möglichkeit sind öffentliche Verkehrsmittel. Und genau dort besteht, besonders im Nachtleben, noch viel Nachholbedarf. Zu gegebenem Anlass der bevorstehenden kostenlosen Nutzung von Zug und Bus bedarf es einer gründlichen Überarbeitung der Nacht- und Rufbusse.

Eine weitere Baustelle ist das Taxigewerbe. Die Preise sind derart hoch und abschreckend, dass die Leute bevorzugen, unter Alkoholeinfluss im eigenen Auto nach Hause zu fahren. Solange Taxi, Bus, Zug und Rufbusse finanziell und logistisch nicht attraktiver werden, ist ein Mentalitätswandel schwierig. Ein dritter und wichtiger Pfeiler in der Vorsorge sind die Eltern. Auch sie sollten sich im Vorfeld Gedanken machen, wie der Nachwuchs nach einem Disco- oder Ballbesuch wieder gesund nach Hause kommt. Sei es in Form von Taschengeld für ein Taxi oder etwa der Bildung von Fahrgemeinschaften.

Alkohol gilt als legale Volksdroge und betrifft die ganze Gesellschaft. Dieses Phänomen kann die AVR nicht im Alleingang lösen. Sie hatten in der Vergangenheit diesbezüglich ein überaus interessantes Projekt mit dem Jugendhaus Mondorf. Um was genau ging es?

Das Jugendhaus Mondorf hat eine Werbekampagne entworfen. Im Vorfeld experimentierten die Jugendlichen an der Herstellung von leckeren alkoholfreien Cocktails. Ihre Botschaft ist klar: Sport treiben, Autofahren, Feiern, all diese Aktivitäten sind alkoholfrei umsetzbar, ohne auf köstliche Drinks zu verzichten. Diese Botschaft soll jeden erreichen. Vor allem sollte sich die Gesellschaft dessen bewusst sein, dass Alkohol nicht nur am Steuer gefährlich ist, sondern auch langfristig Familien und Existenzen zerstört.

Auch Medikamenteneinfluss kann im Straßenverkehr zum Problem werden. Was genau hat es damit auf sich?

Viele Menschen konsumieren Medikamente, seien es Schmerzmittel, Psychopharmaka oder Erkältungsmittel. Die meisten beeinflussen unsere Konzentration und Wahrnehmung und können dadurch die Gefahr eines Verkehrsunfalls erhöhen. Bei der Einnahme mehrerer Medikamente gleichzeitig steigt die Gefahr eines Unfalls erheblich. Wir wollen und dürfen natürlich niemandem die Einnahme wichtiger Medikamente verbieten. Unser Ziel ist es, die Verkehrsteilnehmer über die versteckten Gefahren der Heilmittel zu sensibilisieren.

Persönlich bedauern Sie die Notwendigkeit der Kontrolle und Überwachung der Verkehrsteilnehmer durch Geschwindigkeits- und Alkoholkontrollen. Trotz Strafen ändert sich das Verhalten kaum. Sehen Sie andere Möglichkeiten?

Ich finde es schade, dass die Leute keine Einsicht zeigen und es scheinbar ohne Strafen nicht funktioniert. Von diesem Standpunkt her und aufbauend auf den Erfolgsberichten beispielsweise aus Finnland spreche ich mich für eine strengere und vor allem einkommensabhängige Bestrafung bei Verkehrsvergehen und Alkohol am Steuer aus. Das vielversprechende Modell aus Finnland könnte ich mir auch in Luxemburg vorstellen.
(Anm. der Red.: 2013 wurde Anders Wiklöf, ein reicher Industrieller Finne, für eine Geschwindigkeit von 77 km/h statt der erlaubten 50 km/h mit 95.000 Euro zur Kasse gebeten. Ein Gericht in St. Gallen (CH) verurteilte 2010 ein Millionär wegen innerörtlicher Raserei mit 130 km/h zu einer Strafe von umgerechnet 200.000 Euro.)

Die Diskussionen hierzulande, die Bußgelder bei geringen Geschwindigkeitsübertretungen nach unten zu revidieren, sehen wir als kontraproduktiv.

Wie stehen Sie der multimedialen Entwicklung in den Fahrzeugen gegenüber?

Ich bin der Meinung, dass diese Technik nicht oder nur eingeschränkt in ein Auto gehört. Mobiltelefone lenken schon seit Jahren die Fahrer ab. Streaming, Videos, die Bedienung des Navigationssystems oder das Einstellen jeglicher Parameter des Bordcomputers gehören während der Fahrt abgestellt. Das ist die Aufgabe der Hersteller.

Auch wenn Autos moderner, sicherer und mit Assistenten ausgestattet sind, muss der Fahrer voll konzentriert bleiben und darf nicht durch audiovisuelle Medien während der Fahrt abgelenkt werden.

Hubertus
9. Mai 2019 - 19.00

Das war bestimmt Messwein !!!!

Pierre Ravarin
8. Mai 2019 - 19.01

Ein Beispiel: Der CSV-Präisident ENGEL,. Verurteilt wegen fahren mit 2,8 Promille!!!

de Schéifermisch
8. Mai 2019 - 18.52

Wenn jeder das Auto oder Motorrad als ein normales Beförderungsmittel von A nach B betrachten würde, wären wir in Sachen Verkehrsicherheit einen Riesenschritt weiter.

Mephisto
8. Mai 2019 - 15.52

Unsere Justiz ist doch stets auf Schmusekurs mit den Verkehrssündern. Selbst für gröbste Verstösse ( Alkohol / Drogen und Rasen ) gibt es nur Strafen um die 1.000 Euro , Gefängnis auf Bewährung und Führerscheinentzug auf Bewährung . Oder das Fahrverbot erlaubt den Weg zur Arbeit was bei vielen Berufen vage ist und Missbrauch geradezu provoziert. Besonders die welche ihr Fahrzeug brauchen für die Arbeit sollten verantwortungsvoll fahren , alle anderen natürlich auch. Und hierzulande kommt man überall mit dem ÖPNV hin, es ist nur nicht so bequem, kann man ja vorher wissen.Muss man früher aufstehen. Konkret passiert dem Rowdy also nicht viel , er sitzt schnell wieder am Steuer. Dass es auch anders geht beweist ja die Schweiz .

de bouferpapp
8. Mai 2019 - 12.58

Es stehen allzuviele solcher Kreuze und Mahnmale an unseren Strassenrändern. Der Appell an die menschliche Vernunft bewirkt in den meisten Fallen nicht Sehr viel. Im Strassenverkehr gibt es ja bekanntlich nur gute Autofahrer, zumindest halten sich die meisten für solche. Es wird gerast, die Geschwindigkeit und die Entfernung falsch eingeschätzt, die Strassenverhältnisse ebenso, dann stehen Strassenbäume im Wege oder Radfahrer und Fussgänger kommen in die Quere und es tritt das Unausweichliche ein. Hinzu kommen Alkohol, Aufputschtmittel, sonstige Barbiturate oder Drogen und die Katastrophe ist perfekt. Ohne schärfere Verkehrskontrollen, härtere Strafen mit längerem Führerscheinentzug ist dem Wahnsinn auf unseren Strassen nicht beizukommen. Es muss schon arg wehtun.