Unter Nachbarn: Warum der „Westen“ sein Russland-Bild ändern muss

Unter Nachbarn: Warum der „Westen“ sein Russland-Bild ändern muss

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Es lässt sich herrlich einfach mit Feindbildern leben. Die Welt in „wir“ und „die da“ einteilen, erleichtert Einschätzungen und Entscheidungen. Man braucht sich keine Gedanken darüber zu machen, warum das so ist, warum der andere sich so verhält. Dieser handelt eben so, weil er halt anders ist. Und wenn er gegen unsere Interessen verstößt, dann tut er das absichtlich, aus Boshaftigkeit.

Die Rolle des Bösewichts hat für viele Medien und in der öffentlich vorgetragenen Meinung vieler führender Politiker des sogenannten Westens Russland übernommen, personifiziert durch dessen Präsidenten Wladimir Putin. Er steckt quasi hinter jeder üblen Tat auf der Welt. Es reicht, auf die Hand Moskaus zu zeigen, um zu erklären, was in Syrien los ist, was in Venezuela das Maduro-Regime antreibt. Alle wirtschaftlichen, sozialen Missgeschicke, denen sich die Ukrainer gegenüber sehen, sind auf die Machenschaften des Kreml zurückzuführen.

Russophobie wie im Kalten Krieg

Und ja, fast hätten wir es vergessen: Dass die Welt sich seit zweieinhalb Jahren mit einem Donald Trump herumplagen muss, ist auch den Geheimarmeen aus Putins Troll-Fabriken zu verdanken, haben diese doch via soziale Netzwerke massiv die US-Wähler manipuliert. Leider fehlen bisher noch fundierte Einzelheiten darüber, mit welch okkulter Hilfe die europäische Trump-Variante Boris Johnson zum britischen Premierminister avancierte. Aber sicherlich ist der russisch klingende Vorname nicht ohne Schuld.

Die Russophobie in Europa hat selten zuvor solche Ausmaße erreicht. Man ist unweigerlich an die schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges erinnert, der in den 1980er Jahren mit der Krise um atomare Mittelstreckenraketen in Europa einen neuen Höhepunkt erlebte. Der Vertrag über das Verbot der Mittelstreckenraketen in Europa zwischen den USA und der UdSSR 1987 sollte diese sicherheitspolitisch höchst gefährliche Krise beenden – jener Vertrag, der zu Beginn dieses Jahres von den USA aufgekündigt wurde. Auch damals war der Feind eindeutig identifiziert. Kommentare und Analysen waren schnell verfasst. Es reichte, auf das alte Freund-Feind-Muster zurückzugreifen.

Großmacht-Logik

Nun sind Putin und seine mitherrschenden Mannen – in Sachen Geschlechterparität in führenden Positionen hat das Land noch beträchtlichen Nachholbedarf – wahrhaftig keine Engel. Sie folgen einer Großmacht-Logik, die sie permanent zum Ausbau ihres Macht- und Einflussbereiches drängt, und das sowohl innen- als auch außenpolitisch.

Innenpolitisch bedeutet dies, gefährlich werdende Oppositionskräfte im Zaum zu halten. Eine parlamentarische Opposition wird nur solange toleriert, wie sie den Grundzügen der Politik des Staatsoberhaupts zustimmt. Das ist der Fall bei der gewandelten Kommunistischen Partei Russlands (KPRF) und der rechten Liberaldemokratischen Partei (LDPR) des Wladimir Schirinowski, der sich und seinen ihm nahe stehenden Parteimitgliedern und Familienangehörigen die positive Oppositionsrolle vergolden lässt.

Innenpolitische Stabilität verspricht die Förderung von Gewährsleuten auf den verschiedenen Ebenen des Staatsapparats. Ihnen wird freie Hand gelassen, sich zu bereichern, soweit es nicht allzu sehr und zu offensichtlich zu Lasten einer Bevölkerung geht, auf deren Wohlgefallen auch ein Präsident Putin angewiesen ist. Denn Russland mag keine lupenreine Demokratie sein, wenn man dafür die gängigen, strittigen westlichen Maßstäbe anlegt. Wahlen finden auch in Russland statt, nur dass die Auswahl zwischen Kandidaten und politischen Strömungen eben beschränkt ist.

Stabilität über alles

Die Strukturen, die Putin aufbaute, erlaubten es, dem Land und seiner Bevölkerung nach den Chaosjahren der Jelzin-Ära Stabilität zu geben. Diese innenpolitische Stabilität will die Führung aufrechthalten, natürlich auch aus machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen. Nichts fürchtet Putin mehr, als durch innenpolitische Unruhen den staatlichen Zusammenhalt zu gefährden, was zum Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates führen würde, eine Wiederholung des Zusammenbruchs der UdSSR.

Ihrem nationalen und verwaltungstechnischen Aufbau nach unterscheide sich die Russische Föderation kaum vom vorigen Staat, es sei denn bezüglich ihrer Ausdehnung, meint der Publizist und Ex-Abgeordnete (Einiges Russland) Alexander Chinschtejn in seinem Buch „Ende der Atlantis. Warum Putin niemals ein Gorbatschow sein wird.“ 25 der 85 russischen Föderationssubjekte seien nationale Republiken oder Kreise. Unter einer schwachen politischen Führung würden sich die durch die „leninistisch-Stalinsche Nationalitätenpolitik“ gelegten Minen wieder bewegen.

Von Anfang an habe für Putin der Zusammenhalt der Föderation mit 185 verschiedenen ethnischen Gruppen im Vordergrund gestanden, schreibt der langjährige außenpolitische Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, Horst Teltschik, in seinem rezenten Werk „Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden“. Seine bedingungslose Härte im Bestreben, diesen Zusammenhalt zu sichern, habe er mit dem zweiten Tschetschenienkrieg bewiesen.

Differenzen zwischen Russland und dem Westen

Nachdem er das Haus „in Ordnung“ gebracht hatte, konnte sich Putin verstärkt seiner internationalen Rolle widmen. Diese Rückkehr auf dem internationalen Parkett stört. Russland, das man in den 1990er Jahren quasi abgeschrieben hatte, meldet offen seine Großmachtansprüche an, weist auf seine Interessensphären hin. Das geschieht etwa im Nahen Osten, das geschieht in Europa.

Was heute Putin vorgeworfen wird, nämlich unverblümt russische Interessen verteidigen zu wollen, ist nicht neu. Auch der im Westen hoch gefeierte Boris Jelzin wusste Tacheles zu reden, wenn er Sicherheitsinteressen seines Landes gefährdet sah. „Schon im Dezember 1994 warnte der russische Präsident Boris Jelzin auf einem KSZE-Gipfel in Budapest, Russland werde es nicht tolerieren, von der neuen Sicherheitsordnung in Europa ausgeschlossen zu werden. Hintergrund waren damals die Differenzen zwischen Russland und dem Westen wegen der Krise in Bosnien und insbesondere die amerikanische Unterstützung für den NATO-Beitritt Polens, Ungarns und Tschechiens“, schreibt Teltschik.

Der Unterschied zur heutigen Situation: Jelzins Russland lag wirtschaftlich, sozial und politisch am Boden. Der trinkfreudige Präsident spielte mit den Muskeln, doch seine Auftritte lösten müdes Lächeln im Westen, Fremdschämen bei den eigenen Landsleuten aus. Insbesondere Russlands Verteidigungskräfte waren nur noch ein Schatten ihrer selbst. Das hat Putin geändert. Er hat die Streitkräfte modernisiert, und das zeigt er dem Ausland und vor allem auch einem verunsicherten Volk.

Generationenübergreifend

Insofern ist der Kurs Russland auf außenpolitischer Ebene gar nicht so neu. Das Land ist schlicht zu groß, als dass es sich nur mit sich selbst beschäftigten könnte. Der Anspruch, international mitzureden und mitzugestalten, durchzieht Russlands Geschichte seit Jahrhunderten. Russlands und zuvor die sowjetische Außenpolitik weisen in dieser Hinsicht eine bemerkenswerte Kontinuität auf.

Russland räsoniere in Generationen, während Frankreich in Zeiträumen eines „Quinquennat“ denke, zitiert Le Monde den Direktor des „Institut français des relations internationales“ Thomas Gomart im Zusammenhang mit dem rezenten Treffen Wladimir Putins mit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron im Vorfeld des G7 in Biarritz und dem französischen Bemühen, Russland wieder näher an das restliche Europa heranzuführen.

Es zeugt von einem gerüttelten Maß an Hypokrisie, Russlands geopolitische Interessen zu verdammen, während jene der USA auf allen Kontinenten quasi als „naturgegeben“ betrachtet, jene kleinerer Mächte wie Frankreich auf dem afrikanischen Kontinent totgeschwiegen werden. Und was soll man von den ausgezeichneten Beziehungen zu Staaten wie Katar oder Saudi-Arabien halten, die ihre regionalen Machtansprüche im Jemen todernst durchzusetzen versuchen?

Russlands Sicherheitsbedürfnisse 

Falsch ist es, die Sicherheitsbedürfnisse Russlands zu unterschätzen und das Land als alleinigen Einpeitscher eines neuen Rüstungswettlaufs anzuprangern. Wir denken an Moskau als Nachbarn in Europa. Doch für Russland sind wir ein recht winziger Nachbar. Im Osten hat er mit China einen weit mächtigeren. Diese Grenze ist um ein Vielfaches unsicherer, weil kaum zu kontrollieren. Hinzu kommt der wirtschaftliche und demografische Druck aus China. Ganze Landstriche Sibiriens befinden sich inzwischen in chinesischer Hand. Militärisch steht die Volksrepublik mittlerweile dem Westen in nichts nach. Ihre Mittelstreckenraketen können russische Ziele genauso erreichen, wie sie Städte anderer asiatischer Staaten anvisieren können.

Die Schlussfolgerung: Russland ist kein Unschuldslamm, ein rücksichtsloser, zu ächtender Bösewicht genauso wenig. Das gilt auch bezüglich der Krise in der Ukraine, weswegen die EU-Beziehungen zu Moskau, offiziell zumindest, stark abgekühlt wurden. Auch in diesem Konflikt überwiegen Grautöne. Dass Moskau sich die Krim einverleibte, geschah nicht aus Sehnsucht nach der rauen Schönheit der steinigen Strände von Jalta, sondern aus geostrategischen Interessen. Dass Moskau die Separatisten der Ostukraine mit Wohlwollen behandelt, ist aus seiner Sicht nachvollziehbar. Die selbsternannten Republiken Donezk und Lugansk bilden eine Art Pufferzone zwischen Russland und einer Ukraine, die, ginge es nach der bisherigen herrschenden Elite Kiews, die NATO hart an die russischen Grenzen heranführen würde.

Die Isolierung Russlands führt zu einer auch für einen langjährigen Beobachter russischer Politik befremdlichen innenpolitischen Stimmung.

Alle um den Zaren

Die Ausgrenzung durch den Westen provoziert eine regelrechte Wagenburg-Mentalität. Man fühlt sich von Feinden umzingelt. Die Nation muss zusammenstehen, um ihren Führer geschart. Eine Vorstellung, die wesentlich von der Russisch-Orthodoxen Kirche gefördert wird. Wie weiland bei den Zaren verleiht die Unterstützung der Kirche der offiziellen Politik das Prüfsiegel geistig richtiger Einstellung.

Die Russisch-Orthodoxe Kirche legitimiere Putins Herrschaft, schreibt die langjährige ARD-Korrespondentin Golineh Atai in „Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland so anders ist.“ Da allein mit Gottes Hilfe feindliche Angriffe jedoch nicht abgewehrt, potenzielle Angreifer kaum abgeschreckt werden können, werden dem Volk penetrant regelmäßig die Errungenschaften der vaterländischen Militärtechnik vorgeführt. Kein Tag vergeht ohne TV-Reportagen über neue Waffensysteme, ohne Berichte von Konferenzen ranghoher Militärs, oftmals in Präsenz von Verteidigungsminister Sergej Schoigu.

Das kann wiederum nicht ohne Folgen für jene Oppositionskräfte bleiben, die aus Überzeugung an ein anderes, demokratischeres Russland glauben. Sie zu marginalisieren, fällt der politischen Führung in einer zunehmend verunsicherten Gesellschaft umso leichter. Insofern ist eine Isolierung Russlands durch den Westen in allen Hinsichten kontraproduktiv. Sie schadet alternativen, demokratischen Kräften. Sie beeinträchtigt unsere Sicherheit, weil ein hochgerüsteter Nachbar nun mal objektiv brandgefährlich ist, weil technische Störungen oder ungewollte Fehlentscheidungen schnell zur militärischen Katastrophe führen können.

Macron als neue Brücke

Einflussreicher Mitbegründer eines neuen Denkens könnte nun Frankreichs Präsident Emmanuel Macron werden. Seine Aussagen anlässlich des Besuchs von Wladimir Putin im Fort de Brégançon wenige Tage vor dem G7-Gipfel deuten in diese Richtung. Ein Europa von Lissabon bis Wladiwostok, eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa unter Einbeziehung Russlands, mahnte er an. Eine vernünftige Vorstellung, zumal der traditionelle Bündnispartner USA sich zunehmend für eben diese Rolle selbst disqualifiziert.

Abgesehen von Sicherheitsfragen wird die EU und das restliche Europa insgesamt um gute Beziehungen zu Russland nicht umhin kommen. Da man sich des Nachbarn ohnehin nicht entledigen kann, lohnt es sich, sich zu verständigen und sich für ein stabiles Russland einzusetzen. Denn Interesse daran müsste die EU genauso haben wie umgekehrt Russland an einer stabilen EU. Nicht zuletzt Russlands Putin-treue Oligarchen mit Erst- bzw. Zweitwohnsitz in Europa wissen die Vorzüge stabiler politischer und rechtlicher Verhältnisse zu schätzen. Und sei es nur aus Sorge um ihre hier angelegten Vermögenswerte.

edouard collarini
26. August 2019 - 14.31

es ist an der Zeit bevor es eines Tages zu spät ist dass der sogenannte Westen versteht dass Herr Putin nicht Russland ist und es auch Politer in Russland gibt siehe Her Nawalny die ein total demokratisches Russland wollen