(Un-)Menschliche Abgründe: Der Film „Climax“ von Gaspar Noé

(Un-)Menschliche Abgründe: Der Film „Climax“ von Gaspar Noé

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Gaspar Noés neuer Film „Climax“ wird derzeit als Teil der „Out Of The Box“-Reihe im Ciné Utopia gezeigt. Passender könnte die Platzierung nicht sein, denn das Werk fällt – wie bei Noé nicht anders zu erwarten – absolut aus dem Rahmen.

Einer der Vorteile von Horrorfilmen vermag wohl die Tatsache zu sein, dass – obwohl durch eine totale Überspitzung potenzieller Schreckensszenarien für Adrenalinschübe und Momente der Angst während eines Films gesorgt ist – eine gesunde Distanz zu dem gerade Gesehenen entsteht, nachdem die Leinwand wieder in ihren ursprünglichen Zustand versetzt wird. So grausam und schlimm die fiktive Dystopie auch gewirkt hat, beim Verlassen des Kinos kann man sich glücklich schätzen, nur eine – möglicherweise sogar gut inszenierte und dennoch – unrealistische Gedankenspielerei gesehen zu haben, die mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nie Wirklichkeit werden wird.

Kurzfassung

Für all jene, die nicht gerne lange Kino-Kritiken lesen: Gaspar Noés „Climax“ ist extrem verstörend, unglaublich anstrengend und man verspürt, nachdem man ihn gesehen hat, eventuell das Bedürfnis, den eigenen Kopf gegen die Wand zu knallen oder wahlweise auch einfach einen Schnaps zu trinken. Und dennoch: Schauen Sie sich ihn an!

Was aber, wenn sich ein Film keiner surrealistischen Elemente bedient, sondern lediglich aufzeigt, zu welchen realen Gräueltaten Menschen fähig sind? Was, wenn er auf wahren Begebenheiten basiert und sich an polizeilichen Untersuchungsunterlagen zu einem Fall aus dem Jahr 1996 orientiert, bei dem es Tote gab? Genau hier setzt nämlich Gaspar Noés neustes Werk an und versteht es – ähnlich wie bei „Irréversible“ aus dem Jahr 2002 (mit einer der wohl bekanntesten, realistischsten und vor allem längsten Vergewaltigungsszenen der Filmgeschichte) –, den Zuschauer in eine beobachtende, handlungsunfähige Position zu bringen, die schmerzen kann, da man sich mit weit mehr konfrontiert sieht als schlichter Unterhaltung.

In 15 Tagen abgedrehter Streifen

Die eigentliche Handlung des in 15 Tagen abgedrehten, überwiegend mit professionellen Tänzern besetzten Streifens vollzieht sich in einer Nacht. Nach der Generalprobe eines französischen Tanzensembles, das in der Folge in den Vereinigten Staaten touren soll, schlägt die lockre Stimmung auf der anschließenden Party um. Langsam, aber sicher wird klar, dass sich eine bewusstseinsverändernde Substanz in der angebotenen Sangria befunden haben muss. Zusehends macht sich Unwohlsein breit und die Dissoziation schreitet unaufhaltsam voran. Auf Angst folgt Verzweiflung und Aggression. Überlebenswichtige Grenzen verschwimmen.

Der Umstand, dass aus Unwissenheit niemand der Protagonisten auf den bevorstehenden Drogentrip vorbereitet ist, ist der Situation alles andere als zuträglich. Das „Set“, also die mentale Verfassung einzelner Tänzer und Tänzerinnen, ist angekratzt und auch das sogenannte „Setting“ (die Umgebung) ist für den Konsum denkbar ungeeignet (bei der Location handelt sich um eine verlassene, verkommene Schule mit dunklen Ecken und Fluren). Die Kombination dieser problematischen Faktoren führt dazu, dass einzelne „Horrortrips“ erlebt werden, die dann im Kollektiv zu einem menschlichen Desaster führen.
Bei derartigen Formen von akutem Rausch gerät die konsumierende Person potenziell in eine Situation, in der sie derart mit sich selbst, intensiven Gefühlen und tiefsitzenden Emotionen konfrontiert wird, dass die Überreizung und Überforderung schwerwiegende psychische Konsequenzen nach sich ziehen kann. Benannter Zustand kann einer (zumindest zeitweiligen) Psychose gleichkommen, also einer sich verändernden Wahrnehmung und somit einer meist negativen Verzerrung der Wirklichkeit. (Anm. d. Red.: Wir haben uns diese Erläuterung erlaubt, da es schwer einzuschätzen ist, wie gut sich ein durchschnittlicher Tageblatt-Leser mit Drogen auskennt, geschweige denn ob er – und wenn ja, welche – Substanzen konsumiert.)

Gefangen im eigenen Ich

Gaspar Noé gelingt es, eben diese sehr individuellen inneren Prozesse filmisch zu veräußern, indem er sich bei seiner Bildsprache diverser Körpersprachen bedient. Demnach spielt die Körperlichkeit der Tänzer eine essenzielle Rolle. Zeugen die zu Anfang gezeigten Tanzszenen (die übrigens wie auch die Dialoge keiner zuvor festgelegten Choreografie oder einem Drehbuch folgten, sondern aus langen Improvisations-Sessions heraus entstanden, die Noé filmte) noch von einer eleganten Macht über den eigenen Körper, so geht diese mit zunehmender Wirkung der Substanz verloren.

Der Körper scheint zu diktieren, wie es den mentalen Untergang zu tanzen gilt. Etwas nur scheinbar Fremdes, Beängstigendes übernimmt die Kontrolle über die Menschen, die nicht merken, dass es eigentlich ihre eigene dunkle Seite ist, die sich nach außen kehrt, sie krampfen, Fratzen schneiden, sich selbst verletzen, gewalttätig werden lässt. Noé beschränkt sich nicht auf das Begleiten einer einzigen Person, obwohl die Erfahrungen der mit Abstand ausdrucksstärksten Protagonistin Selva (Sofia Boutella) definitiv im Fokus stehen.

Eigensinnige und einzigartige Kameraführung

Wie oft in seinen filmischen Werken erhält man – bedingt durch eine eigensinnige und einzigartige Kameraführung – die Möglichkeit, auf neue oder zumindest doch unkonventionelle Perspektiven zu stoßen. So zum Beispiel bei zahlreichen „Battledance“-ähnlichen Szenen, in denen von oben herab jeweils eine im Kreis befindliche Person gezeigt wird, die tanzend improvisiert. Am Anfang des Films sind Bewerbungsvideos zu sehen und eine einzige weitere Szene wurde außerhalb des „huis clos“ mit einer an einem Kran befestigten Kamera gedreht. Hauptsächlich verfolgt Noé aber seine Akteure in extrem langen Sequenzen mit der Handkamera, was dem Geschehen eine Hypermobilität verleiht, der man als Zuschauer entweder folgen kann oder durch die man ins Taumeln gerät. Dazwischen gibt es nichts.

„Climax“ stellt außerdem eine aufreibende, keineswegs nostalgische Hommage an die 90er Jahre dar, die sich einerseits durch eine feine Auswahl an grandiosen, düsteren elektronischen Tracks (Kiddy Smile: Dickmatized / Aphex Twin: Windowlicker / Neon: Voices), andererseits aber auch durch die gewählten Tanzstile, darunter Crumping (hochenergetischer Straßentanz), Breakdance oder auch das Voguing (Ballroom-Tanz, der bereits in den 80ern in der New Yorker Homosexuellen-Szene verbreitet war), bemerkbar macht.

Welt jenseits der eigenen Freiheit

Diese Genres entstanden allesamt aus Subkulturen heraus. Man hat es quasi im doppelten Wortsinn mit (politischen) Bewegungen zu tun, da sich mit ihrer Hilfe „freigetanzt“ und emanzipiert wurde. Jedoch befördern sich in „Climax“ einzelne Protagonisten selbst in eine Welt weit jenseits der eigenen Freiheit und es kommt mehrfach zu körperlichen Übergriffen zwischen gleich- sowie andersgeschlechtlichen Menschen. Gerade dieser Punkt zeigt, dass Noés neues Werk nicht etwa ein weiterer „Drogenfilm“ in einer langen Reihe ist, sondern vielmehr ein möglicher Spiegel einer Gesellschaft, in der Freiheit für jeden gelten, aber auch von jedem respektiert werden muss, damit das Miteinander nicht in eine Eskalation ausartet.

Der Film sollte eigentlich passend zur mentalen Massenkarambolage den Titel „Psyche“ tragen, Noé verblieb jedoch mit dem Titel „Climax“ und behauptet nun in mehreren Interviews, der Höhepunkt sei nicht an einer bestimmten Stelle im anderthalbstündigen Film zu verorten, sondern stelle in seiner Gänze einen Höhepunkt dar. Dem muss man nicht beipflichten, sehenswert ist er allemal.