Spitzenkandidaten in der Sackgasse: Die Besetzung von Europas Topjobs gestaltet sich schwierig

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Vier Wochen nach der Europawahl ringt die EU immer noch um einen Nachfolger für Kommissionschef Juncker. Bringt der EU-Gipfel am heutigen Donnerstag den Durchbruch? In Brüssel überwiegt die Skepsis, man peilt schon neue Treffen an.

Von unserem Korrespondenten Eric Bonse, Brüssel

Donald Tusk hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Er strebe weiter eine Einigung im Personalstreit an, schrieb der ständige Ratspräsident in seiner Einladung zum heutigen EU-Gipfel in Brüssel. Noch vor der Tagung werde er viele Staats- und Regierungschefs zu Einzelgesprächen treffen – und sei vorsichtig optimistisch, eine schnelle Entscheidung herbeiführen zu können.

Eurobudget

Am Freitag wird auch über die Zukunft des Euro gesprochen. Hier kommt der geplante Extra-Haushalt für Euroländer wegen eines Streits über die Finanzierung nicht voran. Die EU-Finanzminister konnten sich Ende voriger Woche nicht auf Eckpunkte einigen. Nun müssen die EU-Staats- und Regierungschefs den Finanzministern eine neue Richtung vorgeben. Der Extra-Haushalt soll als Teil des EU-Budgets das Wachstum in den Ländern ankurbeln. Er geht auf einen Vorschlag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zurück, der sich allerdings wesentlich mehr finanzielle Feuerkraft gewünscht hätte.

Auch in Paris und Berlin übt man sich in Zweckoptimismus. „Dies darf kein Gipfel ohne Ergebnis werden“, heißt es im Umfeld von Staatspräsident Emmanuel Macron. Man müsse die „notwendigen Entscheidungen“ treffen, bevor das neu gewählte Europaparlament am 2. Juli zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommt, erklärte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Doch wie das gehen soll, ließ sie offen.

Bisher ist nicht einmal klar, ob Merkel für ihren Spitzenkandidaten Manfred Weber stimmen darf, der im Herbst EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker ablösen will. In der großen Koalition in Berlin hat sie dafür kein Mandat erhalten; die SPD kämpft weiter für ihren niederländischen Genossen Frans Timmermans. Nur auf das „Prinzip Spitzenkandidaten“ konnte man sich in Berlin einigen.

Auch in Brüssel hat sich der Nebel nicht gelichtet – im Gegenteil. Rund vier Wochen nach der Europawahl ist die Lage verworrener denn je. Denn nicht nur Gipfelchef Tusk versucht, ein Personalpaket zu schnüren. Auch das Europaparlament und drei europäische Parteien haben sich in den Machtkampf um die Juncker-Nachfolge eingeschaltet. Bisher endeten alle Bemühungen in einer Sackgasse.

Besonders frustrierend sind die Verhandlungen im Parlament. Dort versuchen vier EU-freundliche Fraktionen – Konservative, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne –, eine Art Koalitionsvertrag aufzustellen. Ursprünglich sollte es schon am Montag fertig werden und signalisieren, dass die Abgeordneten für einen Neustart der EU und für ambitionierte Klimaziele stehen. Doch der Termin wurde verschoben, ein Ergebnis ist nicht in Sicht.

Parteienfamilien mischen sich ein

Als Flop hat sich auch ein neues Format der europäischen Parteienfamilien erwiesen. Bei einem Mini-Gipfel mit sechs Regierungschefs wollten Konservative, Sozialdemokraten und Liberale den Gordischen Knoten durchschlagen. Doch eine erste Runde in Brüssel ging ergebnislos auseinander. Nun soll es noch vor dem EU-Gipfel ein zweites Treffen geben – mit einem Durchbruch rechnet keiner.

Als handlungsunfähig hat sich auch der Europäische Rat erwiesen. Dort steht nicht nur Macron auf der Bremse – er lehnt das „Prinzip Spitzenkandidaten“ ab und hat mit einem Veto gegen Weber gedroht.

Spaniens Regierungschef kämpft für Timmermans

Eine entscheidende Rolle spielt auch der neue spanische Regierungschef Pedro Sanchez. Der Sozialist kämpft für Timmermans und wird nun von allen Seiten umworben; sogar Merkel sucht seine Nähe.

Zusätzlich erschwert wird eine Lösung durch den Plan, nicht nur einen Juncker-Nachfolger zu suchen, sondern gleich fünf EU-Topjobs neu zu besetzen. Dazu zählen die Präsidenten des Europaparlaments, des Rats und der Europäischen Zentralbank sowie der Job des Außenbeauftragten. Bei alldem soll der Parteien-Proporz gewahrt werden, es sollen mindestens zwei Frauen dabei sein und natürlich auch Süd- und Osteuropäer.

Kaum lösbare Aufgabe

Diese Aufgabe gleicht der Quadratur des Kreises. Da sie auf Anhieb kaum lösbar erscheint, wollen sich die Chefs bei ihrem Gipfel am Donnerstag zunächst mit einer „strategischen Agenda“ beschäftigen. „Es geht nicht nur um das Casting, sondern auch um die Grundsätze der Politik“, sagt ein EU-Diplomat. Doch auch hier gibt es ein Problem: Es hakt beim Klimaschutz.

Zwar bekennt sich mittlerweile eine große Mehrheit der 28 EU-Staaten zu einer „klimaneutralen“ Wirtschaft bis zum Jahr 2050. Zuletzt war auch Deutschland auf dieses Ziel eingeschwenkt. Doch ob es der Gipfel auch verabschiedet, ist noch immer nicht sicher. „Der Kampf geht weiter“, heißt es trotzig in Macrons Umfeld. Es klingt fast so, als könnte ein weiteres Gipfeltreffen nötig werden.

Doppelte Mehrheit

Seit der Europawahl läuft das Rennen um den Posten des neuen EU-Kommissionspräsidenten. Wer Nachfolger von Amtsinhaber Jean-Claude Juncker werden will, braucht eine doppelte Mehrheit, um den Spitzenjob zu bekommen: Erst müssen ihn die Staats- und Regierungschefs vorschlagen und dann muss das Europaparlament mehrheitlich zustimmen. Für den Vorschlag der Staats- und Regierungschefs ist eine „verstärkte qualifizierte Mehrheit“ notwendig. Dies sind mindestens 72 Prozent der 28 Mitgliedstaaten, die gleichzeitig für wenigstens 65 Prozent der EU-Bevölkerung stehen. Mindestens müssen sich damit 21 Mitgliedstaaten mit entsprechender Bevölkerung hinter einen Kandidaten stellen. Für eine Sperrminorität wären umgekehrt wenigstens acht EU-Länder nötig. Das EU-Parlament muss den vorgeschlagenen Kandidaten laut Artikel 17 des EU-Vertrags dann „mit der Mehrheit seiner Mitglieder“ wählen. Dies sind bei 751 Abgeordneten 376 Abgeordnete. Wird der Kandidat abgelehnt, müssen die Staats- und Regierungschefs dem Parlament „innerhalb eines Monats“ einen neuen Kandidaten vorschlagen. Danach stimmen die Abgeordneten erneut ab. Auch hier ist eine Mehrheit der Mandate im Parlament nötig.  (AFP)

Einen Termin hat Tusk schon anvisiert: den 30. Juni, gerade noch rechtzeitig vor der konstituierenden Sitzung des Europaparlaments.