Sommerlektüre: „Berlin Noir“

Sommerlektüre: „Berlin Noir“
Berlin, unter den Linden, 1936: Ein Großteil der Roman-Reihe spielt in der deutschen Hauptstadt während der Naziherrschaft

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Zwischen 1934 und 1954 ermittelt Bernie Günther als Polizist, Privatdetektiv und Geheimagent. Als zynischer Antiheld stolpert der Protagonist durch die deutsche Geschichte. Eine Mischung aus historischem Roman, Thriller und klassischem Krimi.

Berlin 1936: Der Ex-Kripobeamte Bernie Günther verdient seinen Lebensunterhalt als Privatdetektiv. In seinem ersten Fall soll er gestohlene Juwelen und zugleich die Mörder einer Industriellenfamilie finden. Doch – so wie später in den meisten seiner Fälle – tritt er bald einflussreichen Leuten auf die Füße.

Mit Bernie Günther taucht der Leser ein in die Zeit der Naziherrschaft sowie in die Nachkriegsjahre bis 1956, wobei die Schauplätze stets wechseln: Wien, Prag, Buenos Aires, Havanna, aber vor allem das Berlin der 1930er Jahre. Die einzelnen Bände folgen nicht chronologisch aufeinander, zudem benutzt der Autor innerhalb der Romane Zeitsprünge, die wie Flashbacks aus Günthers düsterer Vergangenheit auftauchen, doch stets etwas mehr Licht auf seine Persönlichkeit werfen.

Nach und nach fügt sich dem Leser Günthers Biografie zusammen: Er erlebte den Ersten Weltkrieg in den Schützengräben, danach war er Polizist, bis die Nazis an die Macht kamen. Als offener Anti-Nazi und bekennender Sozialdemokrat sieht er sich genötigt, aus einer Polizei zu demissionieren, die immer weniger daran interessiert ist, wahre Schuldige zu finden. Kurze Zeit arbeitet er als Hoteldetektiv in einem von Berlins elegantesten Etablissements. Nach seiner Hotelkarriere wird er Privatdetektiv, doch es dauert nicht lange, bis Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), ihm ein Angebot macht, „das er nicht abschlagen kann“.

Die SS, Erich Mielke und Argentinien

Günther betont mehrere Male, dass man solchen Leuten besser nicht Nein sagt. Als alle Sicherheitsdienste im RSHA vereint werden, findet er sich in der SS wieder, dann in einem Polizeibataillon nach Weißrussland. Dort wird er Zeuge von Massenerschießungen, die er offen ablehnt. Dank der Fürsprache seines obersten Kommandanten, eines früheren Polizeioffiziers, wird er jedoch nicht als Verräter erschossen, sondern nur versetzt.
In Königsberg gerät er in russische Kriegsgefangenschaft. Nach Jahren in Lagerhaft in Russland muss er in Ostdeutschland im Uranabbau arbeiten. Der spätere Stasi-Chef Erich Mielke verhilft ihm zur Flucht, da Günther diesem in früheren Jahren zweimal das Leben gerettet hatte. In Berlin arbeitet er wieder als Privatdetektiv.

Bei einem seiner Fälle wird er von einem Kriegsverbrecher in eine Falle gelockt und wird fortan für diesen gehalten. Dank der geheimnisumwitterten Odessa (Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen) flüchtet er zusammen mit anderen SS-Leuten nach Argentinien, wo er NS-Größen wie Otto Skorzeny (der „Befreier“ Benito Mussolinis) und Adolf Eichmann begegnet. Dort wird er vom Geheimdienst angeheuert und ist gezwungen, wieder als „Schnüffler“ zu arbeiten. Doch er findet mehr heraus, als seinem Auftraggeber lieb ist, und wird um ein Haar lebend aus einem Flugzeug in den Rio de la Plata geworfen.
Die nächste Etappe ist Kuba, wo er u.a. den amerikanischen Mafioso Meyer Lansky kennenlernt. 1954 wird er an Deutschland und von dort aus an Frankreich ausgeliefert, wo er für den französischen Geheimdienst arbeiten muss und so weiter und so fort.

Stolpern durch die deutsche Geschichte

Bernie Günther ähnelt stark dem amerikanischen Typ des „hardboilded detective“ wie Raymond Chandlers Philip Marlowe. Beide sind ungehobelt, aber ehrlich, und mit einer Weste, die nicht ganz sauber ist. Beide zeichnen sich durch einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn aus, der sie öfters in Schwierigkeiten bringt. Beide lieben eine metapherreiche Sprache mit Hang zum Sarkasmus. Günther, wie auch sein amerikanischer Vorgänger, liebt den Alkohol und die Frauen, zudem raucht er wie ein Schlot. Er ist ein zynischer Antiheld, der gerade heraus sagt, was er denkt. Er hasst die Nazis genauso wie die Kommunisten, und da er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält, muss er den Polizeidienst verlassen.

Während man jedoch von der Biografie eines Detektivs à la Philip Marlowe nicht allzu viel erfährt, zeichnet Kerr in den bisher 13 Romanen ein kompletteres Bild seines Helden. Jeder Band liest sich zwar als abgeschlossene Geschichte, doch das Spezielle des jeweiligen Moments versteht man nur, wenn man die Bücher in der Reihenfolge liest.
Sein direkter Bezug zur Geschichte hebt Kerrs Held jedoch aus der Masse der Literaturdetektive hervor. Ähnlich dem Protagonisten aus der Fernsehserie „Die Abenteuer des jungen Indiana Jones“ stolpert Bernie Günther durch das Zeitgeschehen und lernt dabei jede Menge berühmt-berüchtigte Leute kennen, darunter viele bekannte Kriegsverbrecher.  Obwohl die Hauptfigur wie auch seine Fälle Fiktion sind, sind die geschichtlichen Umstände und die Personen, die Günther trifft, gut recherchiert.

Kerr schreibt zudem gegen die stereotype Erzählweise bezüglich des Zweiten Weltkrieges. Sein Held sagt mehrmals, dass die Welt nicht schwarz und weiß ist, so wie seine Gegner es gerne möchten. Er versucht, diese mit seinem kontroversen Detektiv zu zeigen, der gezwungen ist, in der SS und der Gestapo zu dienen, aber nicht in das Bild passt, das man von den Nazi-Schergen kennt. Was aber nicht bedeutet, dass Kerr Nazi-Verbrechen verharmlost, im Gegenteil: Seine Romane klagen sie klar an und sind eine Warnung gegenüber jeder Art von Diktatur.

Auch gegenüber den Amerikanern hegt Kerr seine Zweifel. Bezüglich der CIA meint Bernie Günther in „Mission Walhalla“: „Ihr seid noch schlimmer als die Gestapo.“