Sommer, Sonne, Selfie – Achtung, die Bilderflut kommt!

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Ob für verkappte Singles, kinderreiche Familien oder Politiker in einer niemals enden wollenden Inszenierung: Die Ferien sind bald vorbei und die „Rentrée“ steht vor der Tür. Der richtige Moment also, um auf die freie Zeit und das, was sie mit sich brachte, zurückzuschauen.

Bald sind die letzten Hautfitzel vom Sonnenbrand abgepult, die übrigen, versehentlich mitgeschleppten Sandkörner aus den Rillen der Fliesen gesaugt und auch der unverhoffte Urlaubsflirt stellt langsam, aber sicher seine Liebesbekundungen per WhatsApp ein. Wieder im Käfig des Alltags angelangt, stellt sich die doch nicht allzu unwesentliche Frage, was eigentlich vom Urlaub bleibt.

„Erinnerungen“, möchte man prompt erwidern, aber wie halten wir diese eigentlich heutzutage fest? Gelingt es uns noch, wertvolle Momente zu erkennen, sie zu spüren und Raum im Kopf für sie zu schaffen, sodass das Erlebte auch Spuren hinterlassen kann?

Seit die Kamera zu einem Utensil geworden ist, das sich große Teile der Bevölkerung leisten und auch halbwegs nutzen können, ist es möglich, diese Fragen sozusagen außerhalb des Kopfes zu beantworten. Denn dieser hat sein Alleinstellungsmerkmal als Speicherplatz für wichtige Erlebnisse längst verloren.

Erinnerungen ziehen auf SD-Karten um

Das, was es anscheinend festzuhalten gilt, ist umgezogen. Auf die SD-Karten und Festplatten dieser Welt. Die Migrationswelle der wichtigen Momente ist unaufhaltsam, niemand spricht von Obergrenzen. Sie werden eingepfercht und wenn Überfüllung droht, steht sofort Geld zur Verfügung, um neue Flächen zu finanzieren. Vor allem wird niemand zurückgeschickt, alle dürfen bleiben, auch wenn nicht wenige unter ihnen in der Versenkung verschwinden.

Diesen „Aufnahmelagern“ für JPGs wird häufig wenig Beachtung geschenkt, letztendlich auch, weil sich, nachdem die Fotodateien angekommen sind, niemand mehr um sie schert. Vielleicht entstanden sie nicht einmal, um handfeste Momentaufnahmen von unwiederbringlichen Augenblicken anzufertigen, sondern um als Beweismaterial dafür zu dienen, das es sie gab.

In ihrem viel diskutierten, häufig zitierten und für Profis wie Laien durchaus wertvollen Werk „On photography“ aus dem Jahr 1977 stellt die amerikanische Essayistin Susan Sontag spannende Überlegungen über die Fotografie im kapitalistischen Zeitalter an. Dabei reflektiert sie unter anderem die Rolle des Fotografen, der sich seiner Machtposition als derjenige, der auf den Auslöser drückt, nicht immer bewusst ist. Ebenso beschäftigt sie sich verstärkt damit, in welchem Maß man sich als Fotografierender selbst täuschen kann.

Pics or it didn’t happen

Sie geht außerdem so weit, von einer Abhängigkeit des Menschen von der Kamera zu sprechen, die sich unter anderem im Urlaubskontext bemerkbar mache. Der Apparat werde förmlich zu einem „device that makes real what one is experiencing“. Die eigene Realität scheint also unerlebbar oder nicht wahrhaftig, solange man sie „nur“ fühlt.

Statt wie beispielsweise beim Theater die vierte Wand einzureißen und die Distanz zwischen Publikum und dem Zusehenden aufzulösen, geht die Essayistin bei ihrer kulturellen Bestandsaufnahme davon aus, dass der moderne Mensch dieses Element zwischen sich und dem Erlebten braucht, um es erfassen zu können.

Wer in den vergangenen Jahren Strände, Städte, geschweige denn Monumente im Urlaub aufgesucht hat, wird wohl verstehen, worauf Sontag hinaus will. (Man bedenke hierbei, dass ihre Zeilen mehr als 30 Jahre vor dem Aufkommen der unsäglichen Selfiesticks verfasst wurden. Dass etliche Jahre später sogar Menschen beim Versuch, sich im Urlaub selbst zu fotografieren, sterben würden, hätte sie sich wohl nicht zu erträumen gewagt.)

Augenscheinlich spielt das Vorhandensein eines derartigen Geräts (sowie des jeweiligen PR-Beraters) in der Ferienzeit auch bei dem ein oder anderen luxemburgischen Politiker eine hervorzuhebende Rolle. Für wen hier was spürbar gemacht werden soll, bleibt allerdings fraglich.

Wiseler mit Kind auf dem Arm

Der Spitzenkandidat der CSV, Claude Wiseler, postete zum Beispiel am 10. August ein Bild in den sozialen Netzwerken, auf dem er lächelnd mit einem kleinen Kind auf dem Arm zu sehen ist. Die Bildunterschrift lautete: „Enjoying #favouriteminutes #richtegvakanz“. Während allein schon die Tatsache, dass für derart zärtliche Momente scheinbar nur Minuten vorgesehen sind, für Irritation sorgt, fragt man sich zudem, ob der Moment nicht um einiges intimer hätte sein können, wenn er das Kind statt die Kamera angeschaut hätte. Hat das von der CSV so hochgepriesene Familienleben keine Daseinsberechtigung mehr, wenn es nicht auch digital erfasst ist?

Hier kommt die werte Frau Sontag wieder ins Spiel: Wie sie es nämlich passend ausdrückt, liefern Bilder in derartigen Fällen eher eine „indisputable evidence that the trip was made, that the program was carried out, that fun was had“. Transponiert man diesen Gedanken auf die eben beschriebene Situation, so kann mehr oder weniger versehentlich aus dem „program“ auch schon mal ein Wahlprogramm werden. Oder vielleicht einfach ein willkommener Ersatz dafür, denn in Luxemburg ziehen sicherlich viele potenzielle Wähler das Bilder-Scrollen dem Lesen der Zukunftspläne der Parteien vor.

Erst Foto, dann Essen

Herr Wiseler ist mit der ungefragt angelieferten virtuellen Teilhabe an seinem Privatleben aber nicht allein. Das Gleiche gilt für Franz Fayot, der wohl in Tokio erst essen konnte, nachdem er seine zarte Frau und den rohen Fisch abgelichtet hatte. Das Abfotografieren erfüllt hier wohl gleichzeitig die Aufgabe eines Geschmacks- sowie auch eines Gefühlsverstärkers. Nicht zu vergessen Herr Bausch, der seine etwaigen Wähler nicht nur mitfiebern, sondern gar mitschwitzen lässt, indem er (zumindest der Bildunterschrift zufolge) aus der Sauna im Urlaubsort heraus weiße Plastikkühe ablichtet.

Gemein ist diesen Herren, anderen Politikern sowie unzähligen Menschen, die sich zwar gerade nicht im Wahlkampf, dafür aber ebenfalls im Urlaub befinden, dass sie Risiko laufen, etwas zu verpassen. Und zwar sich selbst.

„A way of certifying experience, taking photographs is also a way of refusing it“, sagt Susan Sontag dazu und fährt fort: „by limiting experience to a search for the photgenic, by converting experience into an image (…).“

roger wohlfart
4. September 2018 - 22.14

Schrecklich und erschreckend diese Selfiemanie. Neuerdings muss alles fotografisch festgehalten werden, von der Geburt bis zum Tode inklusiv. Sonst hat man anscheinend nicht gelebt. Und letztendlich interessiert diese Bilderflut und dieses intim private Fotoarchiv strikt niemanden.

Anne Schaaf
27. August 2018 - 9.43

Danke für den Hinweis in Bezug auf die Schreibweise des Wortes "Fotografie". Wir haben dies nun korrigiert.

L.Marx
26. August 2018 - 15.47

Selber schuld, wer sich im Urlaub von solch extrem überflüssigen "Breaking News" seiner virtuellen "Freunde" nerven lässt... Aber im Ernst: Wirklich wichtige Dinge sind im Kopf noch nach Jahrzehnten gespeichert - und auch abrufbar - wenn das JPG-Format längst obsolet ist und die letzten Lesegeräte das Zeitliche gesegnet haben. Dass sich bis dahin niemand für solche "Leichen in Auffanglagern" interessiert ist allerdings ein schwerwiegender Irrglaube. Mancheiner wurde schon von Schnappschüssen seines früheren Lebens in einem sozialen Netzwerk eingeholt und dafür abgestraft. "Fotographie" ist übrigens ein perfektes Beispiel dafür, was die an sich sehr flexible deutsche Rechtschreibreform nun doch nicht vorsieht. "f" oder "ph", Du musst dich entscheiden (frei nach einer - schon etwas älteren - TV-Show)