So wurden aus Beschäftigungsinitiativen alternative Akteure der Wirtschaft

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CIGR Syrdall und CIGL Differdingen – beide Vereinigungen sorgten wegen mutmaßlicher Unregelmäßigkeiten in den vergangenen Monaten für Negativschlagzeilen. Diese und mehrere Dutzend ähnlicher Einrichtungen gaben Tausenden schwer vermittelbaren Erwerbssuchenden seit fast zwei Jahrzehnten eine neue Chance auf Wiedereingliederung in die Berufswelt und in die Gesellschaft. Ein Rückblick auf Entstehen und Werdegang dieser Sozialinitiativen.

1997 fand hierzulande der Sozial- und Beschäftigungsgipfel der EU-Staats- und Regierungschefs statt. Für die damalige EU-Präsidentschaft Luxemburg ein politischer Höhepunkt, für Premierminister und Ratspräsident Jean-Claude Juncker, zu diesem Zeitpunkt zusätzlich noch Arbeitsminister, ebenso. Das Luxemburger Spitzentreffen war das erste seiner Art und sollte als arbeitsmarktpolitisches Pendant zu den Wirtschafts- und Währungsvereinbarungen im Vorfeld der Euro-Einführung gelten, zumal die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in der Gemeinschaft stagnierte. Die Mitgliedsländer sollten jeweils nationale Aktionspläne zur Erhöhung der Beschäftigungsquote ausarbeiten.

Bereits ein Jahr vor dem EU-Sozialtreffen hatte in Luxemburg eine Beschäftigungstripartite stattgefunden. Hauptthema war, wie jungen, wenig qualifizierten Menschen eine Chance auf einen Arbeitsplatz, eine Berufserfahrung oder Beschäftigungschancen fördernde Maßnahmen angeboten werden konnten. Auch hierzulande wurden in den 1990ern zunehmende Arbeitslosenzahlen festgestellt, ein Ergebnis eines sich wandelnden Arbeitsmarkts, der wenig qualifizierten Menschen und älteren Erwerbslosen geringe Chancen auf eine berufliche Wiedereingliederung bot.

Sozialgipfel, Beschäftigungstripartite und das erste Gesetz zum Nationalen Aktionsplan Beschäftigung aus dem Jahr 1999 sollten der Schaffung von sozial aktiven, nicht auf Gewinn ausgerichteten Organisationen einen starken Impuls geben. Ihr Ziel: Personen den Zugang zum regulären Arbeitsmarkt ermöglichen. Dies sollte durch Weiterbildungsmaßnahmen, die Vermittlung praktischer Berufserfahrung und oftmals auch das Wiedereingewöhnen an einen geregelten Berufsalltag erfolgen. Aus vereinzelten Projekten wie der seit den 1980ern aktiven „co-labor“-Kooperative oder der „Action sociale pour jeunes“ sollte Ende der 1990er, Anfang der 2000er ein dichtes Netz an Beschäftigungsinitiativen entstehen.

Entlastung für ADEM

Finanziert wurden die neu entstehenden Sozialinitiativen zu Beginn zu 37,5 Prozent aus dem Europäischen Sozialfonds, 37,5 Prozent steuerte der Luxemburger Beschäftigungsfonds bei. Später übernahm der Staat ebenfalls den Anteil aus dem europäischen Topf. Den Rest mussten die Initiativen selbst erwirtschaften. Ihre „Kunden“, wenig qualifizierte junge Menschen und ältere Langzeitarbeitslose, bekamen und bekommen die Initiativen von der Arbeitsbehörde ADEM zugewiesen. Für die ADEM waren die Beschäftigungsinitiativen eine enorme Entlastung, da sie in jenen Jahren nicht über ausreichende Mittel verfügte, um sich intensiv mit diesem Personenkreis zu beschäftigen. Dadurch, dass sie staatliche Dienstleistungen übernahmen, war die quasi ausschließlich staatliche Finanzierung der sozial engagierten Einrichtungen durchaus berechtigt.

Foto: Editpress/Isabella Finzi

Seit rund zwei Jahrzehnten bieten die Beschäftigungsinitiativen tausenden von schwer vermittelbaren Erwerbssuchenden eine Chance zur Wiedereingliederung

Initiatoren der Beschäftigungsinitiativen waren unter anderem die großen Gewerkschaften. Ihnen bot sich damit auch eine weitere Gelegenheit, der oftmals erhobenen Kritik, die Syndikate würden sich nur für ihre bereits berufstätigen Mitgliedern einsetzen, konkret entgegenzutreten. So gründeten Ende 1998 Mitglieder des LCGB die bis heute tätige Initiative „ProActif“. Ihr erklärtes Ziel: Wiedereingliederung und Weiterbildung. Zu ihren ersten großen Projekten zählte die Instandsetzung des historischen Geländes im Fond-de-Gras, zu der man sich mit der Gemeinde Petingen verständigt hatte.

Standbein der Solidarwirtschaft

Zu den ganz Großen im Sektor wurde jedoch das vom OGBL Anfang 1999 gegründete „Objectif plein emploi“ (OPE). Seine Philosophie: nicht nur Beschäftigungsinitiative, sondern Teil eines neuen ökonomischen Standbeins, der Solidarwirtschaft, sein. Vorläufer des OPE war das „Comité intercommunal pour le développement et l’emploi“ gewesen, das bereits in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre aktiv war.

OPE war als Netzwerk und Koordinator lokaler und regionaler Initiativen gedacht, die als „Centre d’initiative et de gestion régional“ (CIGR) oder als „Centre d’initiative et de gestion local“ (CIGL) wenige Jahre zuvor gegründet worden waren. In größeren Gemeinden wurden ein CIGL gebildet, während kleinere Kommunen sich in einem CIGR zusammenfanden. Getragen wurden sie von Lokalpolitikern, Vertretern lokaler Vereinigungen und oftmals Kleinunternehmen. Die Initiativen zeichneten für die Projekte verantwortlich, die von ihren jeweiligen Mitarbeitern realisiert wurden. Die Finanzmittel liefen über das OPE, das über eine Konvention mit dem Arbeitsministerium staatliche Zuschüsse bekam, die an die „Centres d’initiative et de gestion“ (CIG) weitergereicht wurden.

Foto: Tageblatt-Archiv

In Esch kümmert sich das CIGL unter anderem um die Leihfahrräder der Stadt

Der damalige OGBL-Präsident und Mitinitiator des OPE, John Castegnaro, definierte die Rolle und die Unterschiede zwischen OPE und CIG in einem forum-Interview im April 2009 folgendermaßen: „‘Objectif plein emploi‘ ist ein Netzwerk. Know-how, Begleitung, Verwaltung, Forschung und Innovation – das alles geschieht bei OPE in Schifflingen. Alles, was die Beschäftigung auf dem Terrain betrifft, geschieht in den verschiedenen CIG.“ Für Castegnaro war OPE mehr als bloß eine Beschäftigungsinitiative. OPE sei „vor allem ein Betrieb, der sich der Solidarwirtschaft verschrieben hat und nach ihren Prinzipien funktioniert“. Neben den traditionellen Pfeilern Staat und Privatwirtschaft bedürfe es einer Solidarwirtschaft, „weil nur sie in der Lage ist, Nischen zu füllen, die auch in Zukunft für einen klassischen Betrieb kaum ökonomisch so interessant und rentabel sein werden, dass sie diese Aufträge unbedingt haben wollen …“, so Castegnaro im forum-Interview.

Unterschiedliche Arbeiten

Schnell wurden die CIG, „ProActif“, und das ebenfalls auf Initiative des LCGB gegründete „Forum pour l’emploi“ zu einem unersetzlichen Akteur im Bereich der Nachbarschaftsdienste. Sie verrichteten und leisten bis heute Arbeiten im Dienste der Öffentlichkeit und älterer Mitbürger. Öffentlich zugängliche Internet-Stuben, Gratis-Fahrrad-Dienste wie „Vel’ok“ in Esch, Düdelingen oder Kayl und anderen Südgemeinden wurden durch CIG ins Leben gerufen und werden bis heute von ihnen betrieben.

Die bei den Initiativen beschäftigten Menschen führen beispielsweise Holz- und Mauererarbeiten durch, pflegen Grünanlagen oder errichten Spielplätze. „Île aux clowns“, die Clown-Truppe, die in Krankenhäusern und Sozialeinrichtungen Menschen aufheitert, war ursprünglich eine OPE-Initiative. Heute ist sie als unabhängige Vereinigung aktiv. Im „Okkasiounsbuttik„, ebenfalls ein CIG-Projekt, werden auf Vordermann gebrachte alte Möbel verkauft. Vorläuferin der auf dem Escher „Gaalgebierg“ betriebenen Gärtnerei war das OPE-Projekt „Kalendula“.

Unprofessioneller Umgang mit Finanzen

Ein Problem begleitete die seit den 1990er Jahren geschaffenen Beschäftigungs- oder Sozialinitiativen von Anbeginn: die allzu große Abhängigkeit von öffentlichen Zuwendungen. Sie waren eigentlich von Anfang an unterfinanziert, standen bei den Banken oftmals in roten Zahlen. Zu hohe Kosten und eine manchmal unprofessionelle Handhabung der Finanzmittel wurden bereits wenige Jahre nach ihrer Gründung angeprangert. Ein vom damaligen Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) in Auftrag gegebenes Audit sollte das Ausmaß der Probleme ans Tageslicht bringen. Die Unternehmensprüfer des belgischen BST sollten die Buchhaltung von „ProActif“, „Forum pour l’emploi“ und OPE für den Zeitraum 2005 bis 2010 unter die Lupe nehmen.

Das bereits 2011 veröffentlichte Audit von „ProActif“ brachte eine Reihe von Unregelmäßigkeiten ans Tageslicht, was später zur Demission von Präsident Robert Weber führen sollte. Laut BST seien beim OPE etliche Millionen Euro zu viel geflossen. Das Netzwerk erklärte dies mit zunehmendem Personalbedarf. Angesichts steigender Arbeitslosigkeit habe man sich personell verstärken müssen.

Das Netzwerk hatte bereits 2008 auf Finanzierungsengpässe hingewiesen. Dabei verließ man sich auf den Beschäftigungsfonds und insbesondere auf den Arbeitsminister, damals noch François Biltgen (CSV). Ende 2010 hätte OPE einen Finanzierungsbedarf von knapp 6,5 Millionen Euro aufgewiesen, wären die Gelder aus dem Arbeitsministerium nicht geflossen. Dass OPE weiterarbeiten konnte, ist den staatlichen Zuschüssen zu verdanken, schrieb das Tageblatt im Oktober 2012. Unterm Strich waren dem OPE angeblich 4,5 Millionen Euro zu viel überwiesen worden.

Begrenzte staatliche Beteiligung

Ins Geld schlug unter anderem die allzu enge Betreuung der „Kunden“. So kam beim OPE im Schnitt ein Betreuer auf zwei befristet eingestellte Arbeitslose. Beanstandet wurde unter anderem auch die angeblich allzu großzügige Vergütung leitender Mitarbeiter. Ein Vorwurf, der von den Betroffenen zurückgewiesen wurde, mit dem Hinweis auf die Gehälter von Mitarbeitern in ähnlicher Position bei anderen sozialen Einrichtungen. Das Arbeitsministerium sollte später die staatliche Beteiligung an den Gehältern begrenzen. Ein neuer Schlüssel sah ab dann einen Betreuer auf fünf Arbeitssuchende vor.

Foto: Tageblatt-Archiv

Die „Île aux clowns“-Truppe war eine Initiative des OPE

„ProActif“ wurde saniert und die Führung ausgewechselt, zu viel überwiesene Mittel wurden zurückgezahlt. Dem OPE hingegen wurden das BST-Audit und die sich anschließenden Diskussionen um eine angeblich schlechte Finanzverwaltung zum Verhängnis, zumal die Führung sich weigerte, den vom Arbeitsministerium vorgeschlagenen Kurs einzuschlagen. Dass beim OPE bereits ein Sozialplan in Ausarbeitung war, sollte das Unternehmen nicht mehr vor dem Aus retten.

Bis zum Schluss wollte die OPE-Führung nicht von Geldmissbrauch oder Schulden gegenüber dem Arbeitsministerium reden. Schließlich seien die zusätzlichen Zuwendungen von Nicolas Schmits Vorgänger Biltgen genehmigt worden. In einem Mitte Mai 2013 verbreiteten Schreiben deuteten die zwei „administrateurs délégués“ von OPE einen politisch motivierten Schlag gegen die Vereinigung an. Vor dem BST-Audit hätten andere Überprüfungen keinerlei Unregelmäßigkeiten festgestellt. Auch seien die Konten von OPE stets dem Ministerium vorgelegt und die Konvention sei immer wieder erneuert worden.

Das Ende des OPE

Der Austritt einzelner CIG beschleunigte das Ende des OPE. Den Anfang hatte das Escher CIGL gemacht. Sämtliche Einrichtungen schlossen dann Konventionen mit den einzelnen Trägergemeinden und dem Staat ab. Sie entwickelten sich zu einem festen Bestandteil der lokalen Wirtschaftswelt.

Mitfinanziert werden sie weiterhin von öffentlicher Hand. Dem Bericht des Arbeitsministeriums von April 2019 zufolge hatte die Behörde im Berichtsjahr 2018 Konventionen mit 34 Trägergesellschaften von Sozialinitiativen unterschrieben, darunter die bereits genannten „Forum pour l’emploi“, „ProActif“, „co-labor“ sowie 23 regionale oder lokale CIG. Über den Beschäftigungsfonds beteiligte sich der Staat an Gehältern der Arbeitssuchenden, den Betreuern und den Betriebsausgaben. Insgesamt belief sich die staatliche Beteiligung 2018 auf 82,6 Millionen Euro. Allein „Forum pour l’emploi“, „ProActif“ und die CIGs bezogen jeweils 14,3 Millionen, 17,3 Millionen und 34,9 Millionen Euro Stützgelder. Die 34 Beschäftigungsinitiativen betreuten im Schnitt 2.097 Personen.

Gesellschaftszweck muss sozial ausgerichtet sein

Die Sozialinitiativen und andere Projekte der Solidarwirtschaft insgesamt waren klassischen Wirtschaftsunternehmen stets suspekt. Sie befürchteten durch den Staat geförderte unlautere Konkurrenz. Das 2016 verabschiedete Gesetz für Sozialunternehmen („sociétés à impact social“ – SIS) sollte den meist als Gesellschaft ohne Gewinnzweck (Asbl.) organisierten Initiativen die Möglichkeit einräumen, ihren Wirtschaftsaktivitäten einen neuen rechtlichen Rahmen zu geben und sie gegebenenfalls auszubauen. Als Teil der Solidarwirtschaft muss der Gesellschaftszweck der SIS weiterhin sozial ausgerichtet sein. Die in eine SIS umgewandelte Asbl. müsste sich jedoch strengeren Kontrollen unterziehen, hätte andererseits aber größeren Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen. Anders als bei den Beschäftigungsinitiativen können alle SIS-Beschäftigte unbefristet eingestellt werden.

Archivbild: Editpress/Didier Sylvestre

Dem OPE wurde das von der Regierung in Auftrag gegebene  Audit zum Verhängnis

Das SIS-Gesetz hat jedoch bisher mäßigen Erfolg. Diesem Zustand will die Regierung entgegentreten. „La transformation de nombreuses asbl qui font partie de l’économie sociale et solidaire en sociétés d’impact sociétal sera encouragée et accompagnée“, heißt es dazu im Koalitionsprogramm 2018-2023. Gleichzeitig sieht die Regierungsagenda eine strengere Kontrolle der Sozialinitiativen vor: „Les initiatives d’insertion (‘Beschäftigungsinitiativen‘) ont un rôle important à jouer dans ce contexte (berufliche Wiedereingliederungsmaßnahmen für Arbeitssuchende, Anm. d. Red.), bien qu’elles doivent également faire l’objet d’évaluations régulières par rapport à l’objectif de réinsertion poursuivi.“ Eine Vorgabe, die sich die Regierung bereits in ihrem Programm von 2013 gegeben hatte, wobei insbesondere eine verstärkte Finanzkontrolle besagter Initiativen hervorgehoben worden war. Das wenige Monate zuvor erlebte Drama um OPE und andere steckte noch in den Knochen.

Christophe
7. November 2019 - 9.12

Leiwe Jugel: Bravo! Intelligente Kommentar! ech zeie main Hutt viru souvill Empathie.

marcel
6. November 2019 - 17.09

Voilä, ech hun mer déi Fro och gestalllt and dunn dem Spillchen emool nogekukt.

John
5. November 2019 - 16.28

Huet Dir schons réaliséiert wievill nei Arbechstplaatzen hei am Land geschaafen gin pro Joer. Do sinn dann Leit, déi vill op sech huelen (wéit Urees etc) an dann sinn der hei am Land, déi einfach keng Platz fannen... Do muss een sech dach awer aalt emol Froen stellen.

Jugel
5. November 2019 - 15.55

Si kënne jo eng Tankstell iwwerfalen, da kréien se eng Plaz an der Wäscherei zu Schraasseg.

lmo
5. November 2019 - 14.33

Leider ass et awer esou, datt net jidderen en Plaz um "Marché" fënnt, aus wéi engen Ursaachen och ëmmer.

Garde-fou
5. November 2019 - 11.10

1. An och wann et just künstlecher wieren, wier dat nach ëmmer besser ewéi keng. 2."Hei am Land sinn genuch Platzen um Marché" -> ahbon, kéint een do och Zuelen dozou kréien, well ech mengen déi Zeiten vunn denen dir hei schwätzt sinn schonn lang net méi ginn. Dat ganzt sinn sozial wichteg Arbëschtplatzen. Se hunn divers Bénéficer fir déi betraffen Lait déi kënnen eppes machen, an een aktiven Member vunn der Gesellschaft duerstellen. Esou kréien si eng finanziell-existenziell Basis, an hiert Selbstbewosstsënn an Wuelbefannen geet an d'Lucht. Dobei kënnt dass d'Gesellschaft vunn all dem och epees Positives dovundréiht. Wisou also déi negativ Haltung Herr Marcel?

marcel
4. November 2019 - 21.04

Daat sinn künstlech Arbeechstplaatzen. Hei am Land sinn um marché genuch Plaatzen do. Daat do ass wann Sozialpolitiker Entrepreneur spillen.