Simone Veil im Panthéon: „Madame, Sie haben Großes vollbracht“

Simone Veil im Panthéon: „Madame, Sie haben Großes vollbracht“

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Die Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz, ehemalige französische Ministerin und Präsidentin des Europaparlamentes, Simone Veil, ist am Sonntag im Pariser Panthéon beigesetzt worden. Ein Rückblick auf das Leben einer außergewöhnlichen Frau. 

Am Vorabend ihres Abiturs wird die 16-jährige Simone Jacob 1944 mit ihrer Familie in Paris festgenommen. Sie wird in das französische Konzentrationslager Drancy transportiert. Von dort nach Auschwitz, wo sie die Nummer 78651 erhält. Eine ehemalige Prostituierte, Kapo in Auschwitz, meint, dass das junge Mädchen eine Schönheit sei und es zu schade sei, sie in Auschwitz umkommen zu lassen. Simone Jacob wird nach Birkenau transferiert. Ihre Mutter stirbt an Typhus in Bergen-Belsen. Als die SS realisiert, dass die Alliierten den Krieg gewinnen und die Konzentrationslager befreien werden, organisiert sie mitten im Winter bei Temperaturen um die minus zehn Grad einen Todesmarsch. Wer dabei stürzt oder nicht mehr kann, wird erschossen. Simone Jacob überlebt.

Simone Jacob überlebt das Schlimmste, was unter Menschen geschehen kann. Sie erlebt die absolute Schlechtheit. Sie erlebt, dass Menschen andere Menschen als wertlos betrachten, weil sie einen anderen Glauben haben, Juden sind. Deswegen werden sie ohne schlechtes Gewissen, ohne menschliche Regung, getötet, vergast, erschossen. Die junge Simone Jacob kehrt nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager nach Paris zurück, in eine Stadt, in der es eine Familie Jacob nicht mehr gibt. Sie ist die einzige Überlebende. Wie geht man damit um?

Vom Gerichtshof in die Politik

Simone Jacob wird Juristin, heiratet Antoine Veil und wird Simone Veil. Sie erklimmt die Stufen des französischen Rechtssystems, wird Richterin und später die Vorsitzende der hohen Autorität der französischen Richterschaft. Antoine Veil und seine Frau Simone bekommen in kurzem Abstand drei Kinder. Aber das Leiden von Simone Veil ist noch nicht vorüber. Ihre Tochter stirbt bei einem Verkehrsunfall. Es gibt eine andere Seite von Simone Veil. Sie ist keine Politikerin, aber sie setzt sich auf allen Stufen der Gesellschaft und der Institutionen, die sie erklimmt, für Frauen ein. Sie nutzt ihre Macht als Richterin, um Frauen nicht rechtlos zu lassen. Simone Veil macht Karriere in einer Gesellschaft, die 1945 zwar die Gleichheit zwischen Mann und Frau beschlossen hat, aber nicht bereit ist, sie umzusetzen.

29 Jahre später ist Valéry Giscard d’Estaing Staatspräsident Frankreichs. Seine Idee – die heute wieder modern ist – lautet, Frankreich zu modernisieren. Auf Vorschlag seines Premierministers und späteren Staatspräsidenten Jacques Chirac ernennt er Simone Veil zur Gesundheitsministerin. Das Staatssekretariat für die Gleichbehandlung der Frauen gibt er an die Journalistin Françoise Giroud. Giscard d’Estaing und Jacques Chirac sind der Meinung, dass Frauenangelegenheiten in die Hände von Frauen gehören. Die beiden Frauen kommen nicht sonderlich gut miteinander aus. Simone Veil versteht sich nicht als Politikerin. Sie will Probleme lösen. Françoise Giroud, so meint sie, sei eine Salon-Sozialistin und mache Schaufensterpolitik. Als Sozialistin habe sie außerdem im konservativ geprägten Parlament keine Chance.

Kampfthema Abtreibung

Was ist das für eine Zeit, in der Simone Veil Ministerin wird und moderne Gesundheitspolitik machen will? In der Pariser Nationalversammlung sitzen damals neun Frauen und 481 Männer, die sich für Frauenangelegenheiten nicht interessieren. Wenn eine Frau im Jahre 1974 bei einer Bank ein Konto aufmachen will, um dort ihren Lohn einzuzahlen, braucht sie beispielsweise die Zustimmung ihres Mannes. An Scheidung ist in dieser Gesellschaft nicht zu denken. In der durch und durch konservativ-katholischen Gesellschaft ist auch an Abtreibung nicht zu denken.  Um ein Abtreibungsgesetz aber hatte der Staatspräsident seine Ministerinnen gebeten. Im Jahre 1974 lassen gut 300.000 Französinnen im Ausland abtreiben. Zwischen 300 und 400 verlieren ihr Leben bei in Frankreich heimlich und schlecht durchgeführten Abtreibungen. Sobald sie ernannt ist, geht Simone Veil das Thema an, das ihr am Herzen liegt. Sie überlässt es nicht Françoise Giroud, sondern will es auf ihre Art durchsetzen.

Der Männer beherrschten Nationalversammlung kommt sie nicht mit Politik. Sie erzählt von Frauen, die abtreiben, schildert, dass keine Frau dies aus Spaß tut, sondern darunter leidet, umso mehr, als sie dann auch noch kriminalisiert wird. Sie tritt eine wüste Diskussion los. Sie, die nur knapp dem Tod in einem Konzentrationslager entkommen ist, muss erleben, dass ihr Auto mit SS-Runen und Hakenkreuzen beschmiert wird. Ein besonders schlauer Franzose erkundigt sich nach einem Empfang im Außenministerium, ob ihre Nummer 78651, die sie auf dem Unterarm trägt, ihre Garderoben-Nummer sei.

Ein Sitz in der „Académie française“

Simone Veil lernt hier Politik. Sie lernt auch,auszuteilen und fürchtet sich nicht vor harten Diskussionen. Unterstützung erfährt sie unter anderem von Magazinen wie Nouvel Observateur, in dem 300 Ärzte erklären, dass sie Abtreibungen praktizieren. Am Ende gewinnt sie. Im Januar 1975 setzt sie das Recht auf Abtreibung durch. 284 Abgeordnete stimmen für das „Gesetz Veil“, 189 dagegen. Das zunächst befristet geltende Gesetz ist heute unangefochtener Bestandteil der französischen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Die Zahl der Abtreibungen in Frankreich liegt heutzutage konstant um die 300.000.

Damit nicht genug, Simone Veil sorgte für finanzielle Unabhängigkeit der Frauen gegenüber den Banken, für vertragliche Freiheit, und damit auch für Unabhängigkeit in der Ehe. Hinzu kam die Gleichberechtigung beim Sorgerecht der Kinder bei der Trennung von Ehepartnern. Simone Veil setzte durch, was heutzutage als juristische Selbständigkeit und damit als Befreiung der Frau gilt. Die hohe Anerkennung, die sie errang, zeigte sich letztlich bei der Aufnahme in die „Académie française“, wo sie den Sitz des Dichters und Dramatikers Racine zuerkannt bekam.

Es hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine Generation gegeben, die sich mit dem Motto „Nie wieder das“ geschworen hat, zur Befriedung Europas und zur Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland beizutragen. Es sind Namen wie Charles de Gaulle, Konrad Adenauer, Joseph Bech, Alcide De Gasperi, Walter Hallstein, Sicco Mansholt, Jean Monnet, Robert Schuman, Paul-Henri Spaak, Altiero Spinelli und eben auch Simone Veil, die 1979 zur Präsidentin des Europaparlamentes gewählt wurde. „Menschen, die nicht die Vorstellung des bürokratischen heutigen Europas hatten“, sagte Staatspräsident Emmanuel Macron bei der Ehrung von Simone Veil am Sonntag.

Eine letzte Reise in die Vergangenheit

Simone Veil fuhr noch einmal in die Vergangenheit zurück. 2004 fuhr sie mit ihren Enkelkindern auf Anregung des Magazins Paris Match nach Auschwitz und Birkenau. Sie flüsterte mit ihnen, erzählt der heutige Direktor der Zeitschrift. Am Ende stellte sie fest, dass es nicht das war, was sie erlebt hatte. „Es riecht anders“, sagte sie. Simone Veil starb am 30. Juni 2017. Staatspräsident Macron verfügte damals, dass sie zusammen mit ihrem Ehemann im Panthéon ihre letzte Heimat finden sollte. Am Sonntag führte der Weg die beiden Särge durch die rue Soufflot zum Panthéon. Die Straße war mit großen Schildern geschmückt, die die wesentlichen Stationen des Lebens von Simone Veil markierten. Rechts und links standen Menschen in Vierer- und Fünfer-Reihen, um ihr zu applaudieren. In der Schweigeminute nach der Rede Macrons ertönte das morgendliche Zwitschern von Vögeln, wie man es heute auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Birkenau hört.

Frankreich hat eine berührende Tradition, seine großen Persönlichkeiten zu ehren. Simone und Antoine Veil werden im Panthéon in der Gruft mit dem Widerstandskämpfer Jean Moulin, mit dem Schriftsteller und Kulturminister André Malraux, mit René Cassin und Jean Monnet ruhen. „Madame“, sagte Staatspräsident Macron, bevor die Särge hineingetragen wurden, „Sie haben Großes vollbracht.“

Grober J-P.
2. Juli 2018 - 13.50

Manchem „Möchtegern Feldherrn“ in Europa würde es gut tun mal Simone zu lesen.