Scheinheilige Konzeptlosigkeit – Die EU überlässt den Westbalkan sich selbst

Scheinheilige Konzeptlosigkeit – Die EU überlässt den Westbalkan sich selbst

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Den eingeschläferten Erweiterungsprozess legen die westlichen EU-Partner mit Rücksicht auf ihre Populisten aufs Endloseis, einen Gefallen tun sie sich damit keineswegs. Der Westen verspielt auf dem Westbalkan nicht nur Glaubwürdigkeit, sondern auch Einfluss – und schafft sich neue Probleme.

Von unserem Korrespondenten Thomas Roser, Belgrad

Wo kein Wille ist, gibt es auch keinen Weg. Die bereits im letzten Jahr aufgeschobene Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien haben die EU-Partner trotz der von Brüssel bescheinigten Erfüllungen der Vorbedingungen erneut vertagt. Den für Anfang Juli geplanten Kosovo-Gipfel in Paris haben Frankreich und Deutschland wegen der sich abzeichnenden Erfolgslosigkeit kurzerhand abgesagt. Deutlich ist: Der Westbalkan und die Erweiterung haben in der mit sich selbst beschäftigten EU immer weniger Konjunktur.

Dabei war das Signal an die Staaten des Westbalkan beim EU-Gipfel von Thessaloniki im Jahr 2003 noch klar. „Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union“, so die in den Folgejahren von EU-Würdenträgern vielfach wiederholte Botschaft der Abschlusserklärung des Gipfels: „Die Länder der Region haben es in der Hand, wie schnell sie dabei voranschreiten.“

Problemkinder im Wartesaal

Doch in der Hand haben die verbliebenen Problemkinder im EU-Wartesaal schon längst nichts mehr. Nur Kroatien hat es 2013 noch geschafft, Europas kriselndem Wohlstandsbündnis noch beizutreten. Die bisherige EU-Offerte von wachsenden Beitrittsperspektiven im Gegenzug für Reformfortschritte scheint trotz der Sonntagsfloskeln ihrer Würdenträger außer Kraft gesetzt. Die Botschaft, die die EU-Partner ihrem ermatteten Vorhof mittlerweile vermitteln, scheint eine andere: Ihr könnt euch abstrampeln, wie ihr wollt – es ist egal.

Es stimmt: Keiner der sechs Anwärterstaaten scheint auf absehbare Zeit beitrittsreif. Aber die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bedeutet im Gegensatz zu früheren Erweiterungsrunden auch längst keinen baldigen Beitritt mehr. Währten die Verhandlungen mit Bulgarien und Rumänien noch vier Jahre, konnte Kroatien diese erst nach sechs Jahren beenden. Bei Serbien und Montenegro dürfte der Verhandlungspoker wohl mindestens ein Jahrzehnt währen – mit offenem Ende. Im Fall von Albanien und Nordmazedonien stünde deren Beitritt auch bei einem baldigen Verhandlungsbeginn wohl erst Anfang der 30er Jahre bevor. Doch zumindest würden beide Staaten eine Perspektive und eine Motivation für ihre notwendige Transformation erhalten.

Denn oft ist der Weg fast genauso wichtig wie das im Fall der EU ohnehin immer undeutlicher werdende Ziel. Die Beitrittsprozess ist der wichtigste Schlüssel für den Westen, aber auch für die Kandidaten, zumindest die gesetzliche Annäherung der Rückstandsregion an die EU-Nachbarn zu forcieren. Für die schwache Zivilgesellschaft der Anwärter sind die Vorgaben und Mängelberichte aus Brüssel zudem ein Mittel, um ihre oft autoritär gestrickten Staatsführer an den von ihnen verkündeten EU-Ambitionen zu messen.

Zynischer Umgang mit Nordmazedonien

Doch ohne echte Zulassung zum Spiel können weder die potenziellen Teilnehmer noch dessen Organisator gewinnen. Selbst Kandidaten, die wie Albanien oder Nordmazedonien die Vorbedingungen für den Verhandlungsauftakt erfüllt haben oder wie Kosovo alle Auflagen für den Erhalt der Visapflicht bei Reisen ins Schengenreich längst abgearbeitet haben, werden mit Rücksicht auf die nationalen Empfindlichkeiten mittlerweile ohne viel Federlesens immer wieder aufs Neue auf den Sankt-Nimmerleinstag vertröstet.

Vor allem der EU-Umgang mit dem wegen des Namensstreits mit Griechenland jahrelang blockierten Nordmazedonien mutet zynisch an. Auch auf Druck und Vermittlung der EU-Diplomatie hat sich der labile Vielvölkerstaat zur Aussöhnung mit Athen und Umbenennung des Landesnamens durchgerungen. Doch der Lohn der Zugeständnisse bleibt dem schon seit 2005 als offizieller EU-Anwärter firmierenden Balkanstaat versagt. Keineswegs auszuschließen ist, dass Premier Zoran Zaev im Herbst der Friedensnobelpreis verliehen werden könnte – während die eifrig applaudierenden EU-Partner den gelobten Beginn der Beitrittsverhandlungen erneut aufs nächste Jahr verschieben.

EU-Beitritt hat an Glanz verloren

Der Lockruf eines fernen EU-Beitritts hat 20 Jahre nach Ende der Jugoslawienkriege nicht nur bei den kühl kalkulierenden Strippenziehern der Region an Glanz verloren. Das Gerede von der EU als Transformationsgenerator ist auch in den Ohren der erschöpften Bürger der Westbalkanstaaten längst zur hohlen Phrase zu verkommen. Das Warten auf bessere EU-Zeiten haben viele längst aufgegeben: Der scheinbar unaufhaltsame Emigrationsexodus junger Familien, Handwerker, Ingenieure und Ärzte in den Westen wird für die Anwärter zu einem immer größeren Entwicklungshemmnis.

Was soll’s, mögen sich gleichgültige Stammtischstrategen fragen: Arbeitskräfte werden im Westen ohnehin benötigt. Doch an einem ausgebluteten, krisengeplagten und desorientierten Rückstandsgebiet als Nachbar kann der EU kaum gelegen sein. Das kurzsichtige Schielen auf vermeintlich nationale Interessen ersetzt auf dem Westbalkan keine Strategie. Und mit scheinheiliger Konzeptlosigkeit und patriarchalischem Schulterklopfen allein lassen sich auch bedürftige Beitrittskandidaten kaum endlos bei der Stange halten.

Sicherlich sollte sich die EU nur mit beitrittsreifen Mitgliedern erweitern, doch sollte sie sich an ihre eigenen Regeln und Zusagen halten – und ihren Anwärtern zumindest eine glaubwürdige Entwicklungsperspektive bieten. Dass EU-Konkurrenten wie China, Russland oder die Türkei, aber auch EU-Solisten wie Ungarn sich das Machtvakuum auf den Westbalkan für ihre eigenen Interessen zunutze machen, ist in erster Linie nicht deren Anstrengungen, sondern der EU selbst zuzuschreiben: Rabeneltern, die ihre Sorgenkinder vernachlässigen, müssen sich nicht wundern, wenn diese mit vermeintlich bösen Buben spielen.

emer positivéieren
26. Juni 2019 - 10.41

Grad well et dat Armenhaus Europa ass misst een helefen, awer déi Länner haalen sech net un d' Réglementer vun Europa do ass de Problem.

Le républicain zu London
25. Juni 2019 - 20.04

Man sollte bedenken, dass die EU sich auch mit anderen Beitrittsstaaten übernommen hatte die auch heute noch nicht die Voraussetzungen von Rechtsstaat, Korruptionsfrei usw erfüllen: wie Rumänien, Bulgarien z.B. also die Balkanstaaten sind da auch noch weit entfernt von den in der EU üblichen Standards....die EU ist verwässert genug seit der letzten großen Erweiterung, sie muss sich einmal festigen nach dem Brexit und dann weiter sehen ob es sich lohnt sich noch weiter auszudehnen im Balkan, der zwar Teil Europas ist aber eben das Armenhaus Europa...