„Aktueller denn je“: Georges Santer über die Erinnerung an den Holocaust – und die wichtige Rolle Luxemburgs dabei

„Aktueller denn je“: Georges Santer über die Erinnerung an den Holocaust – und die wichtige Rolle Luxemburgs dabei

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Am ersten Dienstag im März übernimmt Luxemburg den Vorsitz der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA), einer zwischenstaatlichen Vereinigung, die vor genau 20 Jahren in Stockholm, auf Betreiben des damaligen Premierministers Göran Persson, gegründet wurde. Über diesen Jahrestag heraus warten große Herausforderungen auf die luxemburgische Präsidentschaft. Der künftige Amtsträger, der Diplomat und Historiker Georges Santer, fühlt sich bereit.

Von Claude Wolf

Tageblatt: Wir erinnern uns am Sonntag an die Opfer des Holocaust. Ein Gedenktag, der auf Betreiben der IHRA eingeführt wurde. Darüber hinaus ist die Organisation in der breiten Öffentlichkeit jedoch kaum bekannt. Ist das Thema nicht mehr aktuell?

Georges Santer: Im Gegenteil, mehr denn je. Heute spricht man nicht nur mehr von Antisemitismus, sondern auch von Rassismus sowie von der Anfeindung aller Religionen. Die Diskriminierungen sind größer geworden. „Hate Speech“ hat zugenommen, die Hemmschwelle wird immer kleiner. Die aktuelle politische Lage im Nahen Osten macht es auch nicht leichter. Hinter der Kritik an der israelischen Politik versteckt sich mitunter Antisemitismus. Es gibt aber auch Antizionismus und Antiisraelismus. Rund um diese Thematik gibt es unendlich viel Erklärungs- und auch Aufklärungsbedarf.

Ist das alles Aufgabe der IHRA?
Nein, die IHRA widmet sich, wie es ihr Name sagt, den Opfern des Holocaust. Sie fördert das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg, aber auch die weitere Erforschung dieser Zeit. Noch gibt es einige Zeitzeugen, aber sie werden immer weniger. Deshalb muss die Geschichtsforschung, die ja mittlerweile auch in den Händen von Historikern der zweiten oder dritten Generation liegt, anders orientiert werden. Dies umso mehr als die Stimmen, die den Holocaust verleugnen, wieder lauter werden. Hier darf es keine Tabus geben, die Geschichte muss komplett und ohne Vorbehalte analysiert werden. Wir haben gute Historiker, die vieles aufdecken, was lange ungesagt blieb. Ihre Arbeit ist eine Chance für unser Land – das allerdings lernen muss, mit den Forschungsergebnissen zu leben und sich damit auseinanderzusetzen.

Zur Person: Georges Santer

Der 66-Jährige kommt aus Bascharage und war nach einem Magister der Philosophie mit Schwerpunkten Geschichte und deutsche Sprache ab 1980 als Diplomat tätig. 1983 kam er zur Botschaft in Paris, wo er für die OECD und die Unesco zuständig war. Es folgten Etappen in New York, Madrid, Peking, Wien, Paris und Berlin, bei denen er immer wieder für die luxemburgischen Interessen in den internationalen Organisationen zuständig war. Kulturell ehrenamtlich aktiv war er im Verwaltungsrat des OPL, im Organisationskomitee der Europäischen Kulturhauptstadt 2007 und im Vorsitz des Echternacher Musikfestivals.

Damit sind wir weit entfernt von der IHRA, der hinter vorgehaltener Hand in Fachkreisen vorgeworfen wird, nur da zu sein, um sich ein gutes Gewissen zu geben.
Dessen war man sich auch in internationalen Kreisen bewusst, das soll sich jedoch ändern. Den Anfang hat Jean-Claude Juncker bereits gemacht. Auf sein Betreiben hin hat die Kommission einen Beobachterstatus bekommen. Wir haben in unserer Präsidentschaft weitere anspruchsvolle Aufgaben. Wir werden im nächsten Jahr, unter Luxemburger Präsidentschaft, den 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz feiern, stellvertretend für die Befreiung aller Vernichtungslager der Nazis. Es wird, wie schon gesagt, wohl die letzte Feier sein, an der noch Überlebende teilnehmen. Ich weiß aus meiner Zeit als Botschafter in Wien und der Beteiligung an den Gedenkfeiern in Mauthausen, wie stark emotional geprägt solche Gedenkzeremonien immer sind. Die Feiern im nächsten Jahr sollen ein Abschluss und ein Neubeginn sein. Sie sollen die von uns geförderte Gedenkkultur symbolisieren, aber auch die moderne Geschichtsforschung fördern.

Zusätzlich steht auch die Aufarbeitung der „Erklärung von Stockholm“ auf dem Programm, die bis zum 20. Jahrestag ihrer Veröffentlichung (im Januar 2020) fertig sein soll. Hier bin ich schon länger stark eingebunden, weil der aktuellen italienischen Präsidentschaft aus politischen Gründen zeitweise die Hände gebunden waren. Wir konnten und wollten es uns aber nicht leisten, ein Jahr lang nichts zu tun, und haben deshalb unter anderen Voraussetzungen weitergearbeitet.

Und dann werde ich mich persönlich sehr stark dafür einsetzen, damit Portugal, das bisher Beobachterstatus hat, als Vollmitglied aufgenommen wird. Portugal war im Zweiten Weltkrieg zwar neutral, hat jedoch Großes geleistet. Ich möchte dem portugiesischen Konsul in Bordeaux, Dr. Aristides de Sousa Mendes, der vielen Luxemburgern ein Ausreisevisum gab, eine Ausstellung widmen. Sie soll mit portugiesischen Erklärungen versehen sein und damit auch die Portugiesen hierzulande erreichen. Es gibt auch eine portugiesische Doktorarbeit über den Grenzort Vilar Formoso und den Eisenbahnzug mit 300 Immigranten (darunter auch Leuten aus Luxemburg), der am 7. November 1941 zurückgewiesen wurde. Es wäre nützlich, die Forschungsarbeiten zu koordinieren, gegebenenfalls zu übersetzen.

Der Auslöser

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“
Mit diesen Worten definiert die „International Holocaust Remembrance Alliance“ den Beweggrund für ihre Arbeit.

Wie kam Luxemburg zu der Präsidentschaft der IHRA? Wie haben Sie sich persönlich darauf vorbereitet?
Luxemburg hat sich auf ausdrücklichen Wunsch von Premierminister Xavier Bettel beworben. Die Präsidentschaft wechselt jedes Jahr. Wir arbeiten jedoch in einer sogenannten Troika, dem amtierenden Präsidenten stehen jeweils sein Vorgänger und sein Nachfolger zur Seite. Ich habe 2016 die Nachfolge des Historikers Paul Dostert an der Spitze der Delegation angetreten. Damals führte Rumänien den Vorsitz. Das Land, das sich mit seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg schwertat – es hat die Deportierung von 13.000 Juden innerhalb weniger Tage lange verneint –, hat eine hervorragende Präsidentschaft hingelegt. Es hat sich zu seinen Fehlern bekannt und auf Druck der Expertengruppen der IHRA seine Geschichtsbücher aufs Korn genommen, um sie historisch richtigzustellen. Die IHRA mit ihrem kleinen Team bringt das nicht immer gut in die Öffentlichkeit.

Foto: Kinder im gerade befreiten KZ Auschwitz zeigen dem Fotografen ihre eintätowierten Häftlingsnummern.


Und da wollen Sie jetzt Abhilfe schaffen?

Ja, mir ist viel an der Sichtbarkeit der Organisation gelegen. Ich will das Geschichtsbewusstsein stärken, über Probleme und ihre Lösungen reden. Das kann ich natürlich nicht mit dem Vorsitz einer internationalen Organisation, der die hiesige Bevölkerung nicht anspricht. Deshalb soll es, zusätzlich zu den zwei großen Treffen, die wir im Juni und im Dezember ausrichten, kulturelle Kundgebungen geben. Eine erste ist schon, im Vorfeld der „Présidence“, am 2. Februar in Neumünster. Es ist eine Ausstellung aus dem Holocaust-Museum in Washington, die auf 49 Schautafeln die Propagandamethoden der Nazis veranschaulicht, mit denen sie die noch neue Demokratie nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg aushebelten. Wir haben die Erlaubnis bekommen, 20 dieser Schautafeln zu kopieren und in den Schulen zu zeigen. Denn genau da, bei der Pädagogik, müssen wir ansetzen, um die richtigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und dafür zu sorgen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.


DIE ERINNERUNG WAHREN

Genau 20 Jahre nach der Gründung der „International Holocaust Remembrance Alliance“ übernimmt Luxemburg am 5. März 2019 ein Jahr lang den Vorsitz dieser zwischenstaatlichen Vereinigung, in der mittlerweile 32 Staaten, zwei Partnerländer, elf Beobachter und sieben internationale Partner sitzen. Seit November 2018 ist auch die EU-Kommission, auf Betreiben ihres Präsidenten Jean-Claude Juncker, ein ständiger Partner der IHRA.

Der Alarmschrei kam aus Schweden, wo Premierminister Göran Persson nach einem Besuch in einem Konzentrationslager und einer Meinungsumfrage feststellte, dass in seinem Land (das selbst nicht am Zweiten Weltkrieg beteiligt war) nur wenig über den Holocaust bekannt war und dieser vermehrt infrage gestellt wurde.
Um dagegen anzukämpfen, gründete Persson, unterstützt von den USA und Großbritannien, die „Task Force for international Cooperation on Holocaust Education, Remembrance und Research“, die 2013 in IHRA umbenannt wurde. Sie fußt auf der sogenannten „Erklärung von Stockholm“.

Aufklärung, Forschung und Erinnerung hat sie sich auf ihre Fahne geschrieben. Auf ihr Betreiben wurde der 27. Januar, der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers von Auschwitz, zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Ein weiterer Schwerpunkt ist die kulturelle Erinnerungsarbeit mit Museen und Gedenkstätten. Die IHRA hat ihr Sekretariat in Berlin, die Präsidentschaft übernehmen die Mitgliedsländer reihum.

In der Organisation sitzen Vertreter der Regierungen und Experten.

Für Luxemburg sind das der Diplomat Georges Santer, der die luxemburgische Präsidentschaft leiten wird. Weitere Mitglieder sind die Direktorin des Nationalarchivs Josée Kirps, der Journalist und Historiker Laurent Moyse, der Direktor des Resistenzmuseums Frank Schroeder und die Beamten Max Conzemius (Erziehungsministerium), Marcelle Mangen (Außenministerium) und Sandra Neumann (Staatsministerium).


 

BLICKPUNKT

Zwei Begegnungen richtet die luxemburgische Präsidentschaft aus. Eine erste findet vom 3. bis 5. Juni in Mondorf statt. Dort wurden zwischen Mai und September 1945 fast alle bis dahin gefangenen deutschen Nazigrößen und hochrangige Militärs im „Hotel Palace“ festgehalten und verhört, bevor sie nach Nürnberg vor den Internationalen Militärgerichtshof gebracht wurden.

Bei dieser Gelegenheit soll auch der Dokumentarfilm „Ashcan“ gezeigt werden (siehe Trailer), der erstmals diesen Aspekt der Kriegsgeschichte dokumentiert. „Es ist längst noch nicht alles bekannt, was die Amerikaner herausgefunden haben“, erklärt Santer.

Das zweite Treffen findet im Dezember in Luxemburg-Stadt statt. Dabei soll es zu einer Neuauflage der „Erklärung von Stockholm“ kommen. Es werden bis zu 350 Teilnehmer erwartet.

Grober J-P.
27. Januar 2019 - 19.49

Ich glaube die Hemmschwelle ist direkt an den IQ gebunden, oder an das Nichtwissen.