On the Lake Geneva Shoreline: Eine Liebeserklärung an das einzigartige Paléo Festival in Nyon

On the Lake Geneva Shoreline: Eine Liebeserklärung an das einzigartige Paléo Festival in Nyon

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Am Genfer See finden jeden Sommer gleich zwei der besten Musikfestivals der Welt statt: Neben dem Montreux Jazz Festival steht das Paléo Festival seit 1976 für tolle Livemusik jeglicher Couleur. Obwohl es sich mittlerweile zu einer gigantischen Open-Air-Veranstaltung entwickelt hat, sind am Paléo Nachhaltigkeit sowie ein echter Spirit von Love, Peace & Understanding nach wie vor fester Bestandteil der Philosophie.

Von Gil Max

Die tollsten Festivals

In den kommenden acht Wochen stellen Redakteure und freie Mitarbeiter in dieser Sommerserie ihre Lieblingsfestivals vor – abseits der eingetretenen Werchter- und Rock-am-Ring-Pfade. So soll eine subjektive, alternativere Kartografie der Festivallandschaft gezeichnet werden.
Die 44. Auflage des Paléo Festival Nyon findet vom 23.-28. Juli statt. Headliner sind The Cure.

Es war im Sommer 1995: Nach recht strapaziösen Uni-Klausuren beschlossen ein ähnlich musikbegeisterter Kommilitone und ich, unsere Ersparnisse zusammenzukratzen und uns spontan auf den Weg zu den Jazzfestivals von Montreux und Antibes zu machen, um inmitten von Spitzenmusikern wohlverdiente Entspannung und einen der – damals noch Euphorie auslösenden – Jahrhundertsommer zu genießen.

Über nicht vorhandene Eintrittskarten trösteten wir uns mit Schlagwörtern wie „Abendkasse“ und „Schwarzmarkt“ hinweg und standen, während sich die Abendsonne auf dem sagenumwobenen Lac Léman spiegelte, knapp sechs Stunden später am Eingang der ebenso sagenumwobenen Miles Davis Hall und schafften es tatsächlich, noch Karten für den letzten Konzertabend mit James Carter, Joan Armatrading und Calvin Russell zu ergattern.

Adieu Claude Nobs

Am folgenden Morgen schwärmten wir beim Espresso im Montreux Jazz Café von diesem tollen Festival und seinem mittlerweile verstorbenen Mitbegründer und Leiter „Funky Claude“ Nobs, der in Deep Purples Klassiker „Smoke on the Water“ zu Ehren kommt, als mir in der Lausanner Tageszeitung 24 heures die Anzeige eines gewissen Paléo Festival ins Auge sprang, die ein imposantes Line-up ankündigte. Antibes war kein Thema mehr, und nachdem uns Ortskundige über die einzuschlagende Route am Genfer See entlang aufgeklärt hatten, hieß es: „Auf nach Nyon!“

Leider war das Festival ausverkauft und so machte sich nach der Vorfreude erst einmal Ernüchterung breit. Da ich bereits damals gelegentliche Beiträge für die vorliegende Tageszeitung verfasste, versuchte ich, in der brütenden Hitze einer Telefonzelle, über einen längeren Zeitraum verzweifelt, einen zuständigen Redakteur in der Escher Kanalstraße an die Strippe zu kriegen und ihn dazu zu bewegen, ein Fax an die Pressestelle des Festivals zu schicken, das meinem Kumpel – der fototechnisch recht gut ausgerüstet war – und mir eine Akkreditierung ermöglichen sollte.

Das Fax aus Esch kam nie in Nyon an, doch am Ende des Tages, als längst das Gedröhne der ersten Bands vom Gelände nach außen drang und wir uns abseits des Pressebüros, etwas erschöpft und enttäuscht, mit unserer Niederlage abgefunden hatten, winkte uns die zuständige Mitarbeiterin zu sich und überreichte uns – offensichtlich aus purem Mitleid – lächelnd Backstage-Sticker, was so viel bedeutete wie: „Sesam, öffne dich!“

Liebe auf den ersten Blick

Was nun erfolgte, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Der Backstage-Bereich war ein Backstage-Dorf! Hier standen keine hässlichen Container herum, nein, wir marschierten an Buden, Restaurants, Bars, Kunst-Installationen und einem Kinderhort entlang, folgten inmitten von Heerscharen freiwilliger Mitarbeiter den Girlanden und anderen stimmungsvollen Lichtquellen in der Dämmerung, überquerten kleine Brücken in einem Waldabschnitt, die über einen Bach geleiteten und standen während dieses sonderbaren Traums plötzlich hinter einer riesigen Freilichtbühne.

Über unseren Köpfen betraten die Musiker mit Hilfe einer Rampe die „Grande Scène“, den Fotografen wurden letzte Anweisungen erteilt, ehe sie unter der Bühne verschwanden, ein Ansager trat vor ungefähr 30.000 jubelnde Menschen und kündigte „eine Legende“ an. Ich trat hinaus aufs Gelände, mischte mich unters Publikum. Dann betrat Ray Charles in seinem Glitzerjackett die Bühne und setzte sich strahlend hinter seinen Flügel. Ich schaute mich um, blickte in tausende glückliche Gesichter, und als der damals 65-jährige Raymond Charles Robinson „Georgia“ sang, schwor ich mir, bis an mein Lebensende zu diesem Festival zurückzukehren.

Nyon Folk Festival

Wie die meisten Success-Storys fing auch die Paléo-Story mit der Verwirklichung eines Traums einiger junger Idealisten an. In diesem Fall bestand der Traum darin, ein eigenes Musik-Festival auf die Beine zu stellen. Das gelang der Clique um Paléo-Chef Daniel Rossellat ein erstes Mal im April 1976, als sie die bretonische Folk-Band Malicorne als Headliner sowie 1.800 Besucher zu einer dreitägigen Veranstaltung in den Gemeindesaal von Nyon lockte. Im folgenden Sommer pachtete man dann ein Gelände im angrenzenden Ort Colovray direkt am See und erweiterte die Veranstaltung zu einem viertägigen Open Air namens Nyon Folk Festival, bei dem bereits 17.000 Menschen die Woodstock-Legende Country Joe McDonald sowie den französischen Meister des Gitarren-Pickings, Marcel Dadi, sehen wollten.

Zu Beginn stark in der Hippie-Szene verwurzelt und von angloamerikanischer Folkmusik sowie französischen Chansonniers beeinflusst, öffneten sich die Veranstalter und ihr Umfeld in den Folgejahren kontinuierlich weiteren Musikgenres, sodass das „Folk“ aus dem Namen verbannt wurde und die Veranstaltung ab 1986 in Paléo Festival umgetauft wurde. Bis heute zeichnet sich das Paléo durch diese musikalische Vielfalt aus: Von Miles Davis bis Robbie Williams, von Ravi Shankar bis Rammstein, von Santana bis Stromae ist hier alles möglich und es fühlt sich richtig an, sogar klassische Konzerte sind programmiert.

Einen weiteren Trumpf, den die Veranstalter seit der Gründungszeit konsequent ausgespielt haben, ist das Miteinbeziehen einer Vielzahl von ehrenamtlichen Mitarbeitern. Die Zahl dieser „collaborateurs“ beläuft sich seit ein paar Jahren auf +- 5.000 Freiwillige. In den 90er Jahren ist das Paléo auf das rund 10 Hektar Weidegelände umfassende „Terrain de l’Asse“ ins Hinterland Nyons umgezogen, beherbergt heute in dieser malerischen Kulisse während sechs Tagen rund 230.000 Besucher und ist dennoch vom Wesen her ein nettes, gemütliches Festival geblieben, bei dem der Wohlfühlfaktor sämtlicher Beteiligter an erster Stelle steht – wie damals im Gemeindesaal von Nyon. Vive le Paléo!