Österreich war im EU-Vorsitz mehr Mauer- als Brückenbauer

Österreich war im EU-Vorsitz mehr Mauer- als Brückenbauer
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (M.) im Gespräch mit dem EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker (l.) und dem Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk. Foto: AFP

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Migration war neben dem Brexit dominierendes Thema während des österreichischen EU-Vorsitzes. Die Inszenierung als Brückenbauer wurde jedoch konterkariert vom Streben nach Abschottung Europas. „Merde alors“ also? Nicht nur.

Von unserem Korrespondenten Manfred Maurer, Wien

Das Lob ist uneingeschränkt. Wo immer man sich umhört: Über die Leistung der österreichischen Diplomatie gibt es kein kritisches Wort. Alles perfekt organisiert, jedes Ministertreffen bestens vorbereitet. Umso mehr scheiden sich die Geister aber an der politischen Bewertung des halbjährigen EU-Vorsitzes Österreichs.

Nicht nur den Luxemburgern bleibt das „Merde alors“ in Erinnerung, das Außenminister Jean Asselborn bei einem EU-Afrika-Ministertreffen in Wien Mitte September Italiens Vizepremier Matteo Salvini entgegengeschleudert hatte. Der im Tabubruch geübte italienische Rechtsextremist veröffentlichte einen Videomitschnitt der Szene und brachte damit auch die Gastgeber in eine Zwickmühle.

Denn heimliches Aufzeichnen und Veröffentlichen von hinter verschlossenen Türen geführten Diskussionen geht gar nicht. Weil es in der Auseinandersetzung, die Asselborn so in Rage brachte, um Zuwanderung ging und Österreich da eher auf Salvinis Seite steht, übte sich die Wiener Regierung in vornehmer Zurückhaltung, anstatt den Italiener und FPÖ-Freund zurechtzuweisen. Woraufhin auch Ministerpräsident Xavier Bettel die diplomatische Freundlichkeit ablegte und sich offen „enttäuscht von der österreichischen Präsidentschaft“ äußerte.

Kritik an der Vorsitzführung kam auch danach des Öfteren aus Luxemburg. Sie galt vor allem der Fokussierung auf die Migrationspolitik, deren abwehrenden Charakter schon das Motto des Vorsitzes andeutete: „Ein Europa, das schützt“. Die Österreicher starteten zwar zur Jahresmitte mit einem pompösen „Servus Europa“-Fest, klar war aber, dass dieses Servus nicht jenen Unglücklichen galt, die übers Mittelmeer nach Europa drängen. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) erklärte den Außengrenzschutz zur Priorität des zweiten Halbjahrs. Genau genommen war das gar keine neue Erfindung. Reduktion illegaler Migration, Bekämpfung des Schlepperunwesens und sogar eine Änderung der Genfer Flüchtlingskonvention standen schon in einem Strategiepapier zur Vorbereitung des ersten österreichischen EU-Vorsitzes 1998, als Kanzler und Innenminister noch Sozialdemokraten waren.

Damals wurden Abschottungsversuche freilich noch etwas verschämt gemacht. Man bediente sich euphemistischer Vokabeln, während heute eine sprachliche Behübschung der restriktiven Politik für unnötig gehalten wird. Kurz redet Klartext, steht dazu und erntet Top-Umfragewerte, auch wenn es nicht nur Beifall gibt. Es war wieder Jean Asselborn, der als schärfster Kritiker Österreichs Entscheidung verurteilte, aus dem UNO-Migrationspakt auszusteigen.

Migration wird zum Dauerbrenner

Kurz und sein FPÖ-Vize Heinz-Christian Strache nannte er „Handlanger“ des ungarischen Premiers Viktor Orban. „Ich habe noch nie eine EU-Ratspräsidentschaft erlebt, die ihren Fokus so stark nach nationalen Interessen richtet wie die österreichische“, sagte Asselborn in einem Interview mit dem Wiener Nachrichtenmagazin profil. Als „Brückenbauer“ werde diese Regierung in Europa nicht mehr wahrgenommen. Die europäische Migrationspolitik komme unter Österreich nicht voran.

In der Tat ist die Bilanz selbst in dem für Wien so zentralen Bereich eher bescheiden. Zwar wertet es Kurz als großen Erfolg, dass die zentrale Mittelmeerroute „de facto geschlossen“ sei und somit dort heute weniger Menschen ertrinken als in den Jahren davor. Doch das ist nicht Ergebnis einer konzertierten europäischen Aktion, sondern der Trotzhaltung Matteo Salvinis, der keine Rettungsschiffe mehr in Italien anlanden lässt. Umso mehr Migranten versuchen nun ihr Glück auf der westlichen Mittelmeerroute nach Spanien. Dort, wo Europa gemeinsam agieren wollte, ist wenig weitergegangen.

Die sogenannten Ausschiffungsplattformen, die in Nordafrika eingerichtet werden sollten, wird es nicht geben, weil Kurz keine Regierung dort überzeugen konnte, sich dafür herzugeben. Auch beim EU-Außengrenzschutz ist der Fortschritt mäßig. Zwar arbeitet die Grenzschutzagentur Frontex nun mit afrikanischen Staaten zusammen, aber deren von Wien forcierte Aufstockung auf 10.000 Mann bis 2020 ist gescheitert.

Auch beim Brexit verfehlte Österreich das ursprüngliche Ziel, bis November alles unter Dach und Fach zu bringen. Für die Verzögerungen wird jedoch dem EU-Vorsitz keine Verantwortung zuzuschreiben sein. Er spielte in dem Tauziehen nur eine Nebenrolle. So flog denn Premierministerin Theresa May vor zwei Wochen in ihrer Not angesichts des drohenden Fiaskos im Unterhaus nicht etwa nach Wien zum EU-Vorsitzenden Kurz, sondern zum niederländischen Regierungschef Mark Rutte und zu Angela Merkel nach Berlin. Auch kaum an Österreich lag es, dass die Einigung auf eine Digitalsteuer für Internet-Konzerne ausblieb und die seit Jahren diskutierte Finanztransaktionssteuer wohl endgültig gestorben ist. Bei der Digitalsteuer hatten einige EU-Partner einfach Angst vor der eigenen Courage bekommen, weil diese große US-Konzerne getroffen und damit wohl noch mehr Ärger mit Donald Trump bedeutet hätte.

In einer anderen Geldfrage war eine Einigung ohnehin nicht erwartet worden. Immerhin gelang Wien im Ringen um den EU-Finanzrahmen 2012-27 die Einigung auf die sogenannte Verhandlungsbox, die die Struktur für die Haushaltsplanung festlegt. Dafür erntete Kanzler Kurz ausdrückliches Lob seiner deutschen Amtskollegin Merkel. Auf der Habenseite stehen auch kleine umweltpolitische Fortschritte. Der letzte EU-Umweltministerrat unter österreichischer Leitung einigte sich vor Weihnachten auf eine CO2-Reduktion für Lkws und Busse von 30% bis 2030 und auf 37,5% bei Autos. Das Verbot von Plastikwegwerfprodukten ab 2021 feiert Umweltministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) ebenfalls als großen Erfolg.

Konferenz gegen Judenhass

Allgemein positiv bewertet wurde die von Kurz initiierte Antisemitismuskonferenz, die im November die Sicherheit der jüdischen Gemeinden sowie Strategien gegen Antisemitismus und Antizionismus diskutierte. Die EU-Innenminister nahmen im Anschluss eine Erklärung zur Bekämpfung von Antisemitismus an, die vom letzten Europäischen Rat ausdrücklich begrüßt wurde. Angesichts der in Europa festzustellenden Zunahme antisemitischer Zwischenfälle war diese Initiative überfällig. Vor dem Hintergrund einschlägiger Aktivitäten in den Reihen der mitregierenden FPÖ haftete der Konferenz allerdings auch der Makel des Eigenmarketings an: Österreich inszenierte sich als juden- und israelfreundlichstes Land Europas.

Unterm Strich reichte es jedenfalls doch für ein dickes Lob sogar von einem Luxemburger. Kanzler Kurz habe „konsequent, umsichtig, zuhörend und einfühlend“ gearbeitet, befand EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. „Das kann man nicht von allen Vorsitzen sagen.“ Beim letzten EU-Rat, verriet Juncker, hätten „alle 27 den Kanzler und die österreichische Regierung in all ihren Varianten gelobt“. Vielleicht half ja auch die Aussicht auf den kommenden EU-Vorsitz bei der Verklärung des österreichischen. Denn mit Rumänien nimmt nun ein innenpolitisch zerrissenes Land Platz im EU-Chefsessel, dessen Staatschef Klaus Johannis der Regierung schon vorab die Eignung für eine gute Vorsitzführung abgesprochen hat.