Paléo-Festival: Oden an die Liebe

Paléo-Festival: Oden an die Liebe

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Mit 140 Konzerten an sechs Festival-Tagen und insgesamt 230.000 Zuschauern hat das Schweizer Paléo-Festival in puncto musikalischer Vielfalt, Nachhaltigkeit bei der Ressourcen-Nutzung und was den Wohlfühlfaktor angeht erneut seine Ausnahme- stellung unterstrichen, die einen Großteil der anderen europäischen Sommerfestivals zu Epigonen degradiert.

Von Gil Max

„Paléo, let me tell you one last thing“, ruft Maarten Devoldere, Sänger und musikalischer Kopf der Formation Warhaus, nach einem begeisternden musikalischen Set ins Publikum. „Love is in the air, everywhere I look around.“ Dann ertönt der Disco-Knüller von John Paul Young aus den Boxen und alle tanzen weiter, obschon der sympathische Belgier und seine Begleitband die Bühne längst verlassen haben.*

Damit hat Devoldere das Motto des Paléo vorgegeben: Liebe, Zusammenhalt und Toleranz in dieser unsicheren Zeit, die geprägt ist durch Terror, Klimawandel und Flüchtlingsdramen.
Hier am Genfer See scheinen alle – Veranstalter, Mitarbeiter, Musiker und Besucher – sechs Tage lang das Gefühl zu haben, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die heterogener nicht sein könnte, aber dennoch wunderbar funktioniert.

Musikalisch zeigt sich das in einem radikalen Stilmix, der dieses Festival seit langem auszeichnet. So ist jedes Jahr eine der fünf Konzertbühnen und ein Teilbereich des Geländes einer bestimmten Weltregion vorbehalten. Diesmal ist Südeuropa im sogenannten „Village du Monde“ zu Gast, das die Besucher in einem Nachbau des römischen Kolosseums empfängt.
Die Bühne selbst sowie die Bar „L’Escale“ liegen inmitten einer riesigen „Caseta“, einer dieser für die Feria von Sevilla typischen kurzlebigen Jahrmarktbuden, wo zwischen Musik, Tanz und feinen Tapas ausgiebig gefeiert wird.

Fado, Ska & Tarantalla

In diesem Ambiente bringt die portugiesische Fado-Sängerin Ana Moura die verzweifelte, aber doch so graziöse Musik ihres schwerblütigen Volkes auf die Bühne. Während sie ihre Oden an die Liebe und das Leid in ihrer ganzen düsteren Pracht zur Darbietung und mit einer traumhaften Coverversion von „No Expectations“, dem Country-Blues-Klassiker der Rolling Stones, zum Abschluss bringt, demonstriert zeitgleich am anderen Ende des Geländes der Black Rebel Motorcycle Club in schwarzen Lederjacken, wie man Gitarren-Feedback erzeugt, bis es jedem einzelnen Anwesenden in den Ohren pfeift.

Überdrehte, aber musikalisch versierte Combos wie die Katalanen von Txaranga und La Pegatina sowie die italienischen Giufá lassen mit Ska, Gypsy-Punk und Tarantalla bis spät in die Nacht die Hütte brennen, während an anderer Stelle wiederum leisere Töne erklingen, wie beispielsweise der A-Capella-Gesang der beiden bildhübschen franko-kubanischen Zwillingsschwestern von Ibeyi, der nur gelegentlich mit Drum Pads, einer Cajón und spärlichen Syntieklängen instrumentiert wird.

Beeindruckend ist ihre Abrechnung mit den frauenverachtenden Parolen Donald Trumps im Song „No Man is Big Enough for my Arms“, in dem sie Auszüge einer Rede Michelle Obamas gesampelt haben.

Geheimfavorit

Auch der Bosnier Mario Batkovic gehört zu unseren diesjährigen Geheimfavoriten. Alleine am Akkordeon arbeitet er so effizient mit Loops, dass er ein betörendes musikalisches Feuerwerk entfacht, das an Filmmusik von Michael Nyman oder Philip Glass erinnert.
Ein anderer Ex-Jugoslawe hingegen, nämlich der serbische Filmregisseur und Musiker Emir Kusturica, passt mit seinen Provokationen und Peinlichkeiten als Einziger überhaupt nicht ins Paléo-Weltbild. Zu den Klängen der russischen Nationalhymne betritt er mit seinem No Smoking Orchestra die Bühne, das uns vor langer Zeit einmal begeistert hat.

Alle laufen diesmal wahlweise im Militärlook, als Rebellen oder Sträflinge herum, das Publikum wird genötigt, „Fuck you MTV!“ zu brüllen, das neue Album wird verächtlich als „Corps diplomatique“ angekündigt.

Aggressiver Serbismus

Permanent sickert aggressiver Serbismus durch. Als bei der Bandpräsentation die beiden ersten Sträflinge als Slobodan Miloševic und Augusto Pinochet vorgestellt werden, ist der Gipfel der Geschmacklosigkeit erreicht und wir suchen das Weite.

Dann lieber abtanzen zu Salsa- und Reggae-Rhythmen des famosen Kollektivs Havana Meets Kingston, bei dem der Name eindeutig Programm ist, der Amerikaner Soja, früher Soldiers Of Jah Army oder Bernard Lavilliers, der bereits World Music machte, als es diesen Begriff noch überhaupt nicht gab und der mit insgesamt acht Konzerten am Paléo den Rekord der meisten Teilnahmen hält.

Auch zu dem raffinierten Retro-Pop der Briten Django Django, dem poetischen Rock von Feu! Chatterton, dem stark von Les Rita Mitsouko beinflussten Sound von Clara Luciani sowie dem mitreißenden soulgetränkten Rhythm & Blues des Amerikaners Nathaniel Rateliff lässt sich prima abhotten.

Tja, und dann sind da ja noch die ganz großen Headliner wie Depeche Mode, Gorillaz, Lenny Kravitz, Kaleo, The Killers oder Indochine. Wie die so drauf sind, kann man an anderer Stelle nachlesen, denn sie tauchen immer wieder im Line-up der großen Sommerfestivals (oder der Rockhal) auf.

Gorillaz und Lenny Kravitz

Besonders gut haben uns Gorillaz gefallen, die eine tolle Show mit vielen Gastrappern boten. Da sehen wir mal davon ab, dass wir ihren Chef Damon Albarn mit seinem gelben Pulli aus der Kleidersammlung auf den ersten Blick für einen Hartz-IV-Empfänger hielten.

Dicht gefolgt von Lenny Kravitz, der begleitet von den Jazzklängen von John Coltranes „A Love Supreme“ auf der Bühne erschien und am Ende seines Sets so in Hochstimmung geriet, dass er drei Zugabenblöcke zum Besten gab und eine halbe Stunde überzog. Zwischendurch übertrieb er seine „Love & Peace“-Parolen allerdings derart, dass man glaubte, ein Prediger des Senders Bibel-TV hätte sich dazugeschaltet. Zum Abschluss spielte Lenny natürlich, na was wohl? Na klar: „Let Love Rule.“

Gil Max