Neuanfang aufgeschoben: Wie sich die SPD aufzurappeln versucht

Neuanfang aufgeschoben: Wie sich die SPD aufzurappeln versucht

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Der Abgang von Andrea Nahles hinterlässt in der SPD eine große Leere. Es drängt sich niemand auf, der sie füllen könnte. Erstmal haben die Sozialdemokraten nur vorläufige Antworten.

Es ist 10.47 Uhr, als Andrea Nahles ein letztes Mal vor die SPD-Zentrale tritt. Tagelang hat man die Parteichefin nicht gesehen – während es hinter den Kulissen tobte in ihrer Partei. Gerade eben, sagt Nahles, sei sie offiziell zurückgetreten. Ein irgendwie erleichtertes Lächeln. Ein kurzes „Machen Sie’s gut.“ Und weg ist die Frau, die vor wenigen Monaten noch als Hoffnungsträgerin der Sozialdemokraten galt und die große Koalition durchboxte.
Wie es mit dem Bündnis und mit der SPD jetzt weitergeht, steht in den Sternen – eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger für Nahles ist erstmal nicht in Sicht.

Im Willy-Brandt-Haus übernehmen jedenfalls zur Überbrückung erstmal andere das Zepter. Ein Trio soll jetzt verhindern, dass die Partei kopflos weiter in Richtung Abgrund taumelt. Knapp vier Stunden nach Nahles‘ Abgang treten Manuela Schwesig, Malu Dreyer und Thorsten Schäfer-Gümbel auf. Die Ministerpräsidentinnen von Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz und der im Herbst aus der Politik ausscheidende hessische SPD-Chef müssen nun organisieren, wie es weitergeht.

Wie sie die verfahrene Lage findet, macht vor allem Schwesig deutlich. „Viele Menschen haben an uns Erwartungen, viele Menschen sind enttäuscht, und viele haben sich auch abgewendet“, sagt sie. „Der Rücktritt von Andrea Nahles hat dazu geführt, dass sich unsere Lage noch einmal sehr ernsthaft verschärft hat.“ Und: „Wir haben uns diese Situation nicht ausgesucht, sind aber bereit, in dieser Situation Verantwortung zu übernehmen.“

Keiner will an der Parteispitze stehen

Langfristig will keiner aus dem Trio an der Parteispitze stehen. Schwesig sagt, ihr Platz sei in Mecklenburg-Vorpommern. Dreyer betont, sie wolle erneut als Ministerpräsidentin in Rheinland-Pfalz kandidieren. Schäfer-Gümbel beteuert, an seiner Lebensplanung ändere sich nichts. Er will nach drei gescheiterten Anläufen für das Amt des Regierungschefs in Hessen im Herbst zur Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) wechseln.

Zu dem Zeitpunkt hat bereits Olaf Scholz in einem Interview verkündet, dass der Posten des SPD-Chefs und sein Amt als Bundesfinanzminister zeitlich nicht zu vereinbaren seien. Und Niedersachsens Regierungschef Stephan Weil beteuerte wieder einmal, er bleibe „furchtbar gerne“ Ministerpräsident. Wer kommt stattdessen? Außenminister Heiko Maas? Doch Scholz oder Weil?

Die großen Fragen bleiben offen. Dazu gehört auch, wann und wie die SPD entscheidet, ob und wie sie in der großen Koalition bleibt. Erste offizielle Forderungen nach einem Ausstieg aus der GroKo liegen auf dem Tisch – etwa vom Landesverband Sachsen-Anhalt. In der SPD-Fraktion stellen sich viele der 152 Abgeordneten inzwischen auf eine Zeit jenseits des Bundestags ein. Ihnen erscheint nach dem 15,8-Prozent-Debakel bei der Europawahl eine baldige Neuwahl fast weniger schlimm, als bis zum regulären Termin 2021 in der GroKo auszuhalten – auf die Gefahr eines weiteren Absackens der SPD hin.

Unklare Situation

Ruhe ist da die oberste Pflicht des Übergangstrios. Fast buchhalterisch präsentiert Schäfer-Gümbel den Plan für eine neue Vorstandssitzung. In drei Wochen – am 24. Juni – soll es erste Antworten geben: Zum Verfahren hin zu einem neuen Parteivorsitzenden – oder einer Doppelspitze. Und zur Halbzeitbilanz.

Vieles bleibt unklar – etwa ob es beim für Dezember geplanten Wahl-Parteitag bleibt. Ob es einen außerordentlichen Konvent gibt mit einer einmonatigen Ladungsfrist oder einen ordentlichen Konvent, für den es einen Vorlauf von drei Monaten braucht. In diesem Fall wäre eine Neuaufstellung vor den wichtigen Landtagswahlen am 1. September in Brandenburg und Sachsen nicht mehr möglich.

Einfache Lösungen gibt es bei der SPD momentan nirgends. Übergangsstimmung herrscht auch in der Fraktion, wo an diesem Dienstag mit dem dienstältesten Vorstandsmitglied Rolf Mützenich auch nur ein kommissarischer Nachfolger von Nahles bestimmt werden soll. Findet die SPD Köpfe, die genug Strahlkraft für einen Neuanfang entfalten?

„Drei Musketiere“

Mit Troikas hat die Partei zwar Erfahrung, aber das neue Führungstrio auf Abruf hat kaum den Anspruch, an goldene SPD-Zeiten anzuknüpfen. Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt waren der Inbegriff der Troika – schon als Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping mit ihrem Dreierbündnis in den 1990er Jahren daran anknüpfen wollten, hielt die Eintracht nicht lange.

Die neue Troika will erstmal wieder Frieden einziehen lassen – nach dem von erbittertem Streit bis unter die Gürtellinie fast erzwungenen Abgang von Nahles. Schäfer-Gümbel bemüht die „Drei Musketiere“: „Alle für einen, einer für alle.“ Nach den Erfahrungen der vergangenen Tage sind Zweifel erlaubt.