LibyenNach der Konferenz: „Beide Seiten haben Gründe, die Lage wieder eskalieren zu lassen“

Libyen / Nach der Konferenz: „Beide Seiten haben Gründe, die Lage wieder eskalieren zu lassen“
Wie kommen wir da bloß wieder raus? Beziehungsweise: Wie bleiben wir in dem Geschäft bloß drin? Die Präsidenten Ägyptens und Russlands, Al-Sisi und Putin, Deutschlands Kanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Macron stecken in Berlin die Köpfe zusammen, um eine Lösung für den Libyen-Konflikt zu finden.  Foto: AFP/ Aleksey Nikolskyi

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Die Teilnehmer des Berliner Libyen-Gipfels verpflichteten sich am Sonntag zur Einhaltung eines UN-Waffenembargos und zum Ende der militärischen Unterstützung für die Konfliktparteien. Wolfgang Pusztai, sicherheitspolitischer Analyst, Direktor bei der kalifornischen Beratungsfirma Perim Associates und Vorsitzender des Beirates des National Council on U.S.-Libya Relations, sieht der nahen Zukunft des ölreichen Staates trotzdem mit großer Sorge entgegen. In Berlin sei Wesentliches versäumt, in der Vergangenheit Zentrales unterlassen worden. 

Tageblatt: In Berlin wurde viel Gewicht auf das Waffenembargo für Libyen gelegt. Doch das gibt es seit langem. Wieso sollte eine Einhaltung jetzt funktionieren?

Wolfgang Pusztai: Das Waffenembargo gibt es bereits seit 2011, ist also nichts Neues. Es gibt sogar jemanden, um es durchzusetzen: die EU-Operation Sophia. Diese Marineoperation im Mittelmeer, die zurzeit allerdings keine Schiffe hat, sollte die Küste Libyens überwachen und verdächtige Schiffe kontrollieren – hat aber kein einziges nicht-libysches Schiff mit Waffen an Bord angehalten. Hinzu kommen der riesige Luftraum und die Landesgrenze von Ägypten über die Sahara-Anrainer bis nach Tunesien. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das funktionieren soll, wenn man nicht einmal in dem Bereich, wo man leicht hätte etwas tun können, etwas unternommen hat. Die Durchsetzung des Waffenembargos ist zum einen unrealistisch von den Möglichkeiten her und vom Willen her. Zum anderen darf man nicht vergessen, dass – bis in den letzten Wochen die Türkei – alle Länder bestritten haben, dass sie das Waffenembargo verletzt haben. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Sanktionen gegen die Türkei oder Katar oder auf der anderen Seite gegen Ägypten oder die Vereinigten Arabischen Emirate verhängt würden. Und wenn man sie verhängen würde, wüsste ich nicht, wie sie durchsetzungskräftig sein sollten.

Auf unterschiedlichen Seiten stehend im Libyen-Konflikt: Gespräche zwischen der türkischen und der russischen Delegation in Berlin
Auf unterschiedlichen Seiten stehend im Libyen-Konflikt: Gespräche zwischen der türkischen und der russischen Delegation in Berlin Foto: AFP

Auf der Konferenz in Berlin wurde auch der Waffenstillstand weiter betont. Ist eine Einhaltung realistisch?

Marschall Khalifa Haftar hat den Waffenstillstand ausgerufen über den indirekten Druck der Russen durch Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate. Zuvor hat er von den Türken in vertraulichen Gesprächen die Zusage erhalten, dass Ankara, wenn er die Feuerpause respektiert, keine weiteren Truppen oder Waffen nach Libyen verlegt. Innerhalb von 24 Stunden, also noch bevor der Vertrag von Moskau nicht unterzeichnet worden ist, sind die Verlegungen von türkischen Kämpfern und Luftabwehrsystemen weitergegangen. Haftars Libyan National Army befürchtet, dass über die Gefechtspause, die jetzt besteht, die Türkei ihre Gegner, die Einheitsregierung einschließlich der Milizen in Misrata, so weit aufrüstet, dass die LNA einem Gegenangriff dieser Truppen nichts mehr entgegenzusetzen hat – falls ihnen die Ägypter nicht zur Seite springen.

Wie ist die Lage zurzeit in Libyen?

Die militärische Lage am Boden ist für beide Seiten nicht wirklich haltbar. Die LNA steht ungefähr sieben Kilometer vom Stadtzentrum von Tripolis entfernt, teilweise in exponierten Stellungen. Sie hat ungefähr 40 Kilometer der Küstenstraße nach Tunesien unter Kontrolle. Sie stehen an mehreren Stellen so knapp an der Küstenstraße zwischen Tripolis und Misrata, dass sie diese jederzeit unterbrechen könnten. Seit dem Fall von Sirte haben Misrata und die Einheitsregierung keinen Zugang mehr zu irgendwelchen Ölfeldern. Seit der Blockade der Ölfelder im Osten und nunmehr auch im Süden hat die Einheitsregierung das Problem, dass die Öleinnahmen ausfallen werden. Die Lage ist im Prinzip für beide militärisch und wirtschaftlich extrem schwierig.

Es war eine Abschlusserklärung aller Teilnehmer – außer der Libyer

Könnte eine solch schwierige Lage für beide nicht auch einen Ausweg aus dem Konflikt bieten?

In Berlin wurde versäumt, Maßnahmen zur Konsolidierung und zur Überwachung des Waffenstillstandes auszuverhandeln. Deswegen ist zu befürchten, dass die Kämpfe in den nächsten Wochen wieder weitergehen könnten. Hinzu kommt, dass in Berlin keine der libyschen Delegationen irgendetwas zugestimmt oder unterschrieben hat. Es war eine Abschlusserklärung aller Teilnehmer – außer der Libyer.

Emmanuel Macron begrüßt Khalifa Haftar: Frankreich steht entgegen der anderen Europäer aufseiten der international nicht anerkannten Regierung aus dem Osten Libyens – Feldmarschall Haftar dirigiert deren Truppen
Emmanuel Macron begrüßt Khalifa Haftar: Frankreich steht entgegen der anderen Europäer aufseiten der international nicht anerkannten Regierung aus dem Osten Libyens – Feldmarschall Haftar dirigiert deren Truppen Foto: AFP

Sehen Sie auch Positives in der Berlin-Konferenz?

Natürlich. Erstens war der Zeitpunkt für die Konferenz goldrichtig. Das Problem waren die zu hohen Ansprüche. Positiv bleibt, dass fast alle international Beteiligten und die beiden libyschen Parteien zumindest in dasselbe Gebäude gebracht wurden. Es wurde Grundlegendes zur Zukunft Libyens diskutiert, was zwar gut ist, deswegen ist aber das Wichtigste zu kurz gekommen: die Konsolidierung und die Überwachung des Waffenstillstandes. Das, was in Berlin nicht passiert ist, das Schaffen von vertrauensbildenden Maßnahmen, muss jetzt sehr bald passieren, sonst wird es immer schwieriger – und immer gefährlicher.

Eine Überwachung des Waffenstillstandes müsste von außen erfolgen, die Libyer trauen sich nicht mehr über den Weg. Wer sollte das tun?

Inwieweit Europäer oder arabische Staaten besser geeignet sind, muss diskutiert werden, vor allem mit den Libyern. Unter den Arabern wären nur solche Nationen geeignet, die keine Nachbarn sind, nichts mit dem Konflikt zu tun haben und über ein entsprechendes Militär verfügen. Da bleiben eigentlich nur Marokko und der Oman. Dass man im Osten einer Überwachung durch die Italiener zustimmen würde, halte ich für unwahrscheinlich. Die Italiener werden aufgrund ihrer Unterstützung der Einheitsregierung und der Präsenz ihres Truppenspitals in Misrata von sehr vielen als Konfliktpartei wahrgenommen. Auch die koloniale Vergangenheit ist weder vergessen noch verziehen. Die Europäer können allerdings mit ihren technischen und logistischen Möglichkeiten und vor allem in der Luftraumüberwachung eine wichtige Rolle spielen.

Fayiz al-Sarrasch (l.) hier in Berlin mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan: Der international anerkannte Ministerpräsident Libyens steht schwer unter Druck, hat aber die Türkei auf seiner Seite – auch militärisch
Fayiz al-Sarrasch (l.) hier in Berlin mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan: Der international anerkannte Ministerpräsident Libyens steht schwer unter Druck, hat aber die Türkei auf seiner Seite – auch militärisch Foto: AFP

Wie geht es weiter in Libyen?

In der Nacht von Sonntag auf Montag haben die schwersten Kämpfe seit Verkündung des Waffenstillstandes am 12. Januar stattgefunden. Wird der Waffenstillstand konsolidiert, besteht die Möglichkeit, das Problem politisch zu lösen. Passiert das aber nicht sehr bald, wird die Lage wieder eskalieren. Das kann von beiden Seiten ausgehen. Beide hätten Gründe anzufangen.

Dann wären wir aber wieder am Punkt, wo ein ausgewachsener regionaler Konflikt droht …

Bereits im vergangenen April hat Haftar Tripolis angegriffen, ohne sich vorher mit Ägypten oder den Emiraten abzustimmen. Weil ihm klar war, dass sie ihn, wenn es eng wird, aus Eigeninteresse sowieso unterstützen müssen. Ägypten und die Türkei sagen jetzt, beruhigend einwirken zu wollen. Das kann man bis zu einem gewissen Grad glauben. Nur wenn die radikal-islamistischen Milizen wie die Al-Kaida-nahen Al-Faruk-Brigaden, die die Einheitsregierung bisher unterstützt haben und die sich gerade in Zawya konsolidieren, den Kampf gegen die LNA beginnen und die dann auch die Flugplätze angreifen muss, sind die Türken sofort involviert. Dann könnten sich auch die Ägypter nicht mehr heraushalten. Dieselbe Rechnung könnte Haftar machen: Ich beginne den Angriff, habe damit sofort auch die Türken als Gegner – und dann wird Ägyptens Präsident al-Sissi schon kommen, um mich da rauszuhauen. Diese Eskalationsrechnung könnten beide Seiten machen. So könnten Ankara und Kairo, selbst wenn sie es nicht wollten, wieder hineingezogen werden.

Jacques Zeyen
21. Januar 2020 - 10.13

" Mein Beruf besteht im Totschlagen und im Totgeschlagenwerden;damit verdiene ich mir meinen Lebensunterhalt. Höchstens unsere Obersatrapen wissen genau,warum man sich gegenseitig umbringt." (Voltaire- Die Welt wie sie ist)