Mosaik der Erinnerungen: Anita Lucchesi untersucht die Migration in Luxemburg

Mosaik der Erinnerungen: Anita Lucchesi untersucht die Migration in Luxemburg

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In der Geschichtsforschung wird sich nicht nur mit jahrhundertalten Quellentexten beschäftigt und in verstaubten Bibliotheken gehockt. Historikerin Anita Lucchesi beleuchtet die Migration in Luxemburg und sucht die versteckten Geschichten dahinter. Den Weg dazu sucht und findet sie über die sozialen Medien.

Historikerin Anita Lucchesi hat ihr Forschungsprojekt zur Migration Memorecord genannt. Das digitale „Public History“-Projekt läuft über einen Hashtag. Die Webseite memorecord.uni.lu stellt eine Plattform dar, auf der durch Crowdsourcing, also mithilfe einer Masse von Internetnutzern, Erinnerungen an die Migration in Luxemburg gesammelt werden. „Dies ist ein wichtiger Teil meiner Doktorarbeit im C2DH. Am Anfang sollte es nur eine Webseite sein, auf der Dokumente hochgeladen werden“, erklärt Doktorandin Anita Lucchesi, die aus Rio de Janeiro stammt. Die anfängliche Idee kam bei den künftigen Teilnehmern nicht so gut an. „Sie wollen ihre Erinnerungen dort online stellen, wo sie mit anderen interagieren können.“ Deswegen kam ihr die Idee, die sozialen Medien zu nutzen. Da Anita Facebook & Co. nicht neu erfinden konnte, griff sie schließlich auf das Mittel des Hashtag zurück: Auf den sozialen Netzwerken sollen alle diesbezüglichen Beiträge mit #memorecord versehen werden.

Bei ihrer Forschung experimentiert sie mit neuen Arbeitsmethoden für die historische Forschung. „Ich möchte wissen, ob es einen wirklichen Mehrwert hat, wenn Historiker bei ihrer Forschung digitale Technologien verwenden.“ Fragestellungen sollen auf eine andere Art und Weise beantwortet werden. „Die praktische Seite von Memorecord verbindet sich mit dem theoretischen Teil meiner Thesis.“

Für alle Nationalitäten offen

In ihrer Doktorarbeit analysiert und vergleicht sie nur die Migration der italienischen und portugiesischen Einwanderer. #memorecord ist jedoch für alle Nationalitäten offen. Dadurch wird die Sammlung bunter und multikultureller. In Luxemburg leben heutzutage 107 Nationalitäten, die sich untereinander austauschen. „Dadurch entsteht eine andere Atmosphäre als in den 90er Jahren“, als die Migrationsbewegungen nur aus ein paar Ländern kamen. Die Posts helfen ihr beim Erzählen der Migrationsgeschichte der Portugiesen und Italiener in Luxemburg. Es sei demokratischer gewesen, das Projekt für jeden zu öffnen.

Auch wenn es bei Memorecord hauptsächlich um Einwanderung geht, sind auch Luxemburger eingeladen, Erinnerungen zu teilen. „Luxemburger können wohl am besten Aussagen darüber machen, wie Migration das Land verändert hat.“ Warum sollte ihnen also nicht zugehört werden, fragte sich Anita. Ihre Reaktionen, doch auch das Nicht-Gesagte, ließen verschiedene Rückschlüsse zu. „Wenn keine Luxemburger beim Projekt dabei sind, dann muss ich mich später fragen, ob ich nicht mit ihnen kommuniziert habe, oder ob sie nicht mitmachen wollten. Je nachdem, wie die Antwort ausfällt, sagt das etwas anderes für die Ergebnisse meiner Forschung aus.“ Bisher hat sie 60 Posts gesammelt. Bis März 2019 sammelt sie weiter. Danach fängt die Historikerin mit der Auswertung an, da sie im August ihre Arbeit fertiggestellt haben muss.

„History from the bottom“

Bei ihrer Forschung betreibt Anita „history from the bottom“. Sie schreibt beispielsweise nicht über die Dynastien in Luxemburg, um über die Migration zu reden. „So kommt die Geschichtsschreibung näher an das Leben heran.“ Die Menschen könnten dies eher nachvollziehen.

Diese neuen digitalen Methoden der Forschung lassen nicht nur andere Rückschlüsse zu, sondern die Archivierungsmethoden müssen sich ebenfalls verändern. „Wir müssen erst lernen, wie wir das digital erzeugte Material archivieren können“, so Anita. Dabei wird nicht vergessen, was bei der traditionellen Geschichtsschreibung gelernt wurde. Vielmehr wird jetzt privat archiviert, so dass jeder ein persönliches Archiv besitzt. „Wir leben in einer Übergangszeit. Wir befinden uns im Übergang von einer gedruckten Kultur zu den Bites und Bytes des digitalen Zeitalters.“ Ein spezielles Onlinetool hilft Anita dabei, alles unter dem Hashtag #memorecord herauszufiltern, nur bei Facebook muss sie weiterhin alles manuell herauskopieren. Dann speichert sie alles in einem Excel-Dokument ab.
Das Besondere bei der Archivierung des Online-Materials besteht darin, dass nicht der Post an sich gespeichert wird: „Eine digitale Version der Bibel repräsentiert immer noch die Bibel. Das ist online nicht mehr so.“ Mit diesem neuen Material umzugehen, ist eine der derzeitigen Herausforderungen für Historiker.


Anitas Geschichte

Anita Lucchesi untersucht die Migrationsgeschichte des Großherzogtums, indem sie Erinnerungen sammelt. Dabei gehört sie selbst dazu: Ihre eigene Geschichte teilte sie auf der Memorecord-Webseite. Diese geht auf den Ersten Weltkrieg zurück. Ihr Ur-Großvater war ein italienischer Soldat im Ersten Weltkrieg. Die Familie ihres Vaters stammt aus Lucca, in der Toscana. Nach dem Zweiten Weltkrieg und während einer schweren Wirtschaftskrise fiel die Entscheidung, nach Brasilien auszuwandern. Zwei Jahre später holte er die Familie nach. Ihre Mutter hat einen deutschen Hintergrund. Ihren Weg nach Luxemburg fand sie durch die „Digital History“ und dem 2015 gegründete „Digital History Lab“der Universität. Mittlerweile ist es ihr drittes Jahr im Großherzogtum. „Das erste Jahr hatte ich etwas mit dem Wetter und der Größe der Stadt zu kämpfen.“ Sie stammt eigentlich aus Rio de Janeiro. „Besonders das Meer habe ich vermisst.“

Anfangs fühlte sie sich etwas einsam, da sie noch niemanden richtig kannte. Dann hat sie ein paar Freunde gefunden und mit ihnen das Land entdeckt. Auch an der Uni kennt sie mittlerweile viele ihrer Kollegen. „Doch die Winter sind immer noch hart für mich.“

Wenn es nach ihr geht, dann möchte sie noch länger in Luxemburg bleiben und das Ergebnis ihrer Arbeit pädagogisch verwenden. „Als Historikerin sehe ich mich selbst auch als Lehrerin, denn ich liebe das Klassenzimmer.“ Auch aufgrund der derzeitigen politischen Situation ihres Heimatlandes sieht sie ihre Zukunft in Europa. Anita Lucchesi hat ihren Masterabschluss in vergleichender Geschichte an der Universität in Rio de Janeiro absolviert. Ihre Bachelorarbeit zur Beziehung von Geschichte und den neuen Medien hat den Preis der brasilianischen Gesellschaft für Geschichtstheorien und Historiografiegeschichte gewonnen und wurde als E-Book herausgegeben.


Memorecord: Die Geschichte von Douglas May, einem Brasilianer mit Luxemburger Wurzeln

„Am 9. Mai dieses Jahres bin ich in Luxemburg angekommen, nachdem ich einen Tag vorher um 15.00 Uhr abgeflogen bin. Das waren 14.000 Kilometer in 12 Stunden“, schreibt Douglas in seinem Instagram-Post. Sein Vorfahre Heinrich habe Mitte des 19. Jahrhunderts die entgegengesetzte Route absolviert, so der 38-Jährige weiter. Heinrich war damals gerade zwölf Jahre alt. Douglas May stammt aus dem brasilianischen Bundesstaat Santa Catarina. Er hat einen Hochschulabschluss in Jura und Geschichte und hat als Schauspieler gearbeitet. Seit knapp sechs Monaten lebt er in Luxemburg und entdeckt zum ersten Mal Europa und das Land seiner Vorfahren. Sein Ur-Urgroßvater Heinrich May wurde 1853 in Diekirch geboren. Er ist mit seiner Mutter, Tanten und Onkel nach Angelina im Bundestaat Santa Catarina gezogen, um sich dort ein besseres Leben aufzubauen. Heinrich hat eine Luxemburgerin, Margaretha Franz (1855-1915), geheiratet. Eines ihrer acht Kinder war Douglas’ Ur-Großvater Joao Nicolau May. Joao wiederum kam mit der aus Schweden eingebürgerten Brasilianerin Gertrude Clara Felber zusammen, die Douglas’ Großvater Avelino May (1923-2015) geboren hat.

„Viele flohen damals vor Kriegen, Epidemien und Elend“, erklärt Douglas im Gespräch mit dem Tageblatt. Viele deutschstämmige Auswanderer haben sich damals in Santa Catarina niedergelassen. Zu dieser Zeit hat die brasilianische Regierung den Ankommenden aus Deutschland und Luxemburg Land geschenkt. „So konnten einige von ihnen ziemlich reich werden, besonders im Vergleich zu der Armut, die sie in Luxemburg zurückgelassen haben“, erklärt Douglas. In Brasilien ist er unter anderem als Captain Jack Sparrow aus der Filmserie „Pirates of the Caribbean“ aufgetreten. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Johnny Depp ist unverkennbar. Sein Großvater Avelino hatte erfahren, dass es als direkter Nachfahre eines Luxemburgers möglich ist, die Luxemburger Staatsbürgerschaft zu beantragen. Douglas’ Schwester lebt und arbeitet bereits in Luxemburg. Einer seiner Cousins wird nachfolgen. Bei der Familie May kommen zwischen 20 und 30 Familienmitglieder für die Wiedereinbürgerung infrage.

Viele der in Brasilien lebenden Nachfahren wissen gar nicht, dass ihre Familie aus Luxemburg stammt. „Sie denken, dass sie eigentlich deutsche Vorfahren haben.“ Warum das so ist, weiß Douglas nicht. Beim Projekt #memorecord wollte er teilnehmen, weil er als Historiker seine eigene Sichtweise und den Werdegang seiner Familie mitteilen wollte. Mittlerweile besitzt er die doppelte Staatsbürgerschaft. Über das kleine Luxemburg wusste er vor seiner Überfahrt, dass es ein sehr entwickeltes Land mit sozialer Ausrichtung seinen Einwohnern gegenüber ist. Als er hier angekommen ist, war er beeindruckt. In Europa ist er noch nicht viel umher gereist. Er kennt Belgien und die Grenzgebiete, das ist bisher alles, was er von Europa gesehen hat.