Mit Trauma-Pädagogik Kinder „nicht verurteilen, sondern verstehen“

Mit Trauma-Pädagogik Kinder „nicht verurteilen, sondern verstehen“
Symbolfoto: Pixabay

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Kinder an ihrem Umfeld teilhaben und mitbestimmen lassen, ihnen erklären, was gerade um sie und mit ihnen geschieht. Denn Wissen ist Selbstbemächtigung, sagt die Traumapädagogik, eine junge Fachdisziplin, die sich auch an alle, die mit Kindern leben, richtet: Eltern, Erzieher, Lehrer. Mitte Oktober vermitteln hochkarätige Experten in der Abtei Neumünster wertvolles Wissen dazu (Link zur Website der Veranstaltung). Im Gespräch mit Karin Kiesendahl, pädagogische Direktorin vom „SOS Kannerduerf Lëtzebuerg“, Veranstalter der Konferenz, bekam Daisy Schengen auch als Mutter gute Tipps, wie sie mehr Entspannung in den Alltag mit ihren Kids bringen kann.

Tageblatt: Frau Kiesendahl, wie entstand die Idee zur „Ersten internationalen Traumapädagogik-Konferenzwoche in Luxemburg“?
Karin Kiesendahl: Zunächst möchten wir damit ein breites Fachpublikum, aber auch interessierte Besucher auf die Trauma-Problematik aufmerksam machen. Es liegt auf der Hand, dass wir im Bereich „Aide à l’enfance“ immer mehr Kinder mit Traumata betreuen.

Aber wie ist es im Privaten?
Tatsächlich können Traumata durch unglückliche Lebensereignisse jeden treffen. Sich im Vorfeld davor schützen, kann sich leider keiner. Vor allem wenn Kinder traumatische Erlebnisse haben, stellt sich die Frage nach ihrer Auswirkung auf ihr weiteres Leben, wenn sie unbehandelt bleiben.

Kinder dürfen nicht unterschätzt werden. Vermittelt man ihnen das nötige Wissen über den Umgang mit schlimmen Erlebnissen, schaffen sie es, das Erlebte zu verstehen und damit umzugehen. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen Traumapädagogik und Traumatherapie.

Können Sie ihn näher erläutern?
Während die Therapie auf einen gewissen Zeitraum beschränkt ist und durch Psychologen, psychotherapeutische Psychologen oder auch Psychiater geleistet wird, sind wir im pädagogischen Bereich tätig. Wir brauchen Werkzeuge für unseren Umgang mit traumatisierten Kindern im Alltag. Deshalb fragen wir nach den Hintergründen des Traumas. Wertvolle Hilfe in diesem Zusammenhang bekommen wir dank der Traumapädagogik.

Das heißt, dieser ganzheitliche Ansatz existierte früher so nicht?
In der Tat bietet die Traumapädagogik uns viele Möglichkeiten. Auch dort, wo wir jahrelang im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe oft danach gesucht haben und feststellen mussten, dass wir für unsere Vorstellungen selbst nicht wirksam genug waren.
Dadurch dass in der Traumapädagogik die psychotraumatologischen Vorgänge im Gehirn besser verstanden werden: Wie und was ist passiert und welche Auswirkungen hat es auf die Gehirnkommunikation? So können wir den Kindern sehr viele Wege aufzeigen, ihr Leben richtig gut zu bewältigen.

In der von Ihnen veranstalteten Konferenz sind diese neurobiologischen und -psychologischen Vorgänge auch ein Thema.
Das Wissen um die Psychotraumatologie, also das, was im Gehirn bei einem Trauma vor sich geht und welche Auswirkungen es für das Leben eines Menschen hat, ist nicht nur für Fachpersonal, sondern auch für jeden anderen Menschen, der ein solch prägendes Ereignis verarbeiten musste, enorm wertvoll.
Was ist passiert, warum reagiere ich so und wie kann ich das in meinem Leben kontrollieren – diese Fragen stellt und beantwortet Professor Manfred Schnitzer in seinem Vortrag. Der Hirnforscher geht den förderlichen Dingen nach, die jeder von uns tun kann, damit sich sein Gehirn gesund entwickelt.
Denn das Gehirn spielt eine große Rolle im Nervensystem bei einer traumatischen Erfahrung, woraus sich nicht zwangsläufig ein Trauma entwickeln muss. Es gibt Menschen, die das Gleiche erleben und doch keine posttraumatische Störungssymptome entwickeln.

Woran liegt das?
Das sind Menschen, die einen enorm „resilienten“ (widerstandsfähigen) Charakter haben. Eine der großen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist: Ist Resilienz angeboren? Wird man mit einer weitreichenden Fähigkeit, zu überleben und mit Stress umzugehen, geboren? Oder was kann man selbst tun, um diese psychischen Widerstandskraft zu trainieren?
Oft stellt man diese Unterschiede bei Geschwistern fest, die das Gleiche erlebt haben. Während der eine normal weiterleben kann, Zugang zu seinen Emotionen hat, sich kontrollieren und stabile Beziehungen aufbauen kann, bleiben diese Fähigkeiten dem anderen verwehrt. Die Antwort dieser Fragen liegt aus Sicht der aktuellen Forschung in der Funktionsweise des Gehirns. Daher auch die entsprechenden Vorträge und Workshops zu Beginn der Konferenzwoche.
(Zum Thema Widerstandskraft bei Kindern lesen Sie auch unser Gespräch mit Ph.D. Michael Ungar.)

Gestatten Sie die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Verhalten Erwachsener und der Traumapädagogik?
Nun, Traumapädagogik bedeutet nicht Misserfolg, sie ist nicht defizitorientiert. Übersetzt heißt das Letztere, dass sie sich fern von Urteilen wie „was für ein aggressiver Mensch!“ hält.
Stattdessen schaut sie auf die Überlebensstrategien, auf die Schutzmechanismen, die ein Mensch infolge einer belastenden Situation entwickelt hat, in der man sich nicht anders dagegen wehren konnte. Diese Fähigkeiten sieht die Traumapädagogik als wertvolles Kapital an.
Schaut man sich Kinder unter diesem Blickwinkel an und macht jemanden aus, der beispielsweise alles genauestens prüft und nichts dem Zufall überlässt, verfügt er aus unserer Sicht über Fähigkeiten, die in manchen Berufen sehr nützlich sind. Anderes Beispiel sind Menschen, die aus einem tiefen Leid einen enormen Optimismus entwickelt haben.
Was ich damit sagen will, ist, dass Abstempeln in diesem Fachbereich nicht funktioniert. Bei einem aggressiven Kind suchen wir nach den Ursachen. Manchmal, je nachdem, wie alt es ist, kann man ihm seine Verhaltensweise in bestimmten Situationen mit der in seinem Gehirn existierenden „Funkstörung“ begreifbar machen.
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Kind rastet aus und schlägt mit voller Wucht zurück, nachdem es der Lehrer an der Schulter berührt hat, um es an seine Hausaufgaben für den nächsten Tag zu erinnern.
Das Entsetzen nach einem solchen Vorfall ist groß. Aber möglicherweise hat das Kind bereits traumatische Erfahrungen gemacht und wird in diesem Moment, durch die Berührung, „getriggert“, an früheres Trauma blitzschnell erinnert. Das „Austicken“ ist demnach eine Reaktion des Gehirns, das glaubt, das Kind befinde sich in einer lebensbedrohlichen Situation. Infolgedessen schaltet sich der fürs Denken zuständige Teil im Kopf in diesem Moment ab.

Aggressives Verhalten lässt sich jedoch nicht nur damit plausibel erklären?
Darum dreht sich gerade die große Diskussion. Kinder, die in der Schule nicht mehr „mitkommen“, die sich während des Unterrichts quasi „wegbeamen“ oder „durchdrehen“ – sind genauer betrachtet physisch im Klassenzimmer präsent, aber intellektuell nicht da.
Fachleute sprechen in solchen Situationen von einer „Funkstörung“ zwischen dem emotionalen System (Hypothalamus) und der kognitiven, für das Denken zuständige, Großhirnrinde (Cortex).
Diese (Ausnahme-)Situationen werden durch bestimmte Trigger, Erinnerungen an die belastende Situation, ausgelöst. Manche Menschen, die Unfälle erlebt haben, vertragen beispielsweise Metallgeräusche nicht, da sie sie an die traumatische Situation erinnern. Diese Ängste stehen in keinem Kontext mit dem Ereignis, in dem sich der Mensch gerade befindet.
Unser Gehirn hat die fantastische Fähigkeit, sich in lebensbedrohlichen, traumatischen Situationen selbst auszuschalten, wenn es „der Meinung ist“, dass wir damit nicht fertig werden können.
Unfälle, sexueller Missbrauch, schwere Gewalt sind solche Beispiele. Dadurch geht das Gehirn in einen sehr archaischen, ursprünglichen Zustand zurück und zersprengt die Wahrnehmung: sehen, schmecken, hören sind nur noch Fragmente. Später kann es vorkommen, dass diese Elemente ein Eigenleben zu führen beginnen, weil sie nicht mehr richtig funktionieren.
Daher liegt es uns sehr am Herzen, in der Gesellschaft eine gewisse Traumasensibilität zu fördern. Manch „auffällige“ Kinder sollte man nicht sofort verurteilen, sondern versuchen, sie zu verstehen. Die Kinder können ihre in Folge des Traumas entwickelten ‚Schutzmechanismen‘ nicht aufgeben. Das geht auch nicht, das Kind schützt sich dadurch vor einem erneuten Trauma. Aggressivität oder Erstarrung, ein Kind, das sich innerlich zurückzieht, mögen als Schutzmechanismen für das Kind wirksam sein, aber sie passen nicht ins reale Leben.
Genau dort setzen wir in unserer täglichen Arbeit mit den Kindern an: (Körper-)Erfahrungen gegenüber und mit anderen Menschen; alternative Beziehungsangebote, die transparent, verlässlich, berechnend und stabil sind. Dabei bestimmt das Kind selbst das Tempo und die Tiefe der Beziehung, es ist nicht ausgeliefert.

Ich stelle mir dieses Vorgehen ziemlich starr vor. Bleibt da auch Raum für Spontaneität?
Natürlich. Wir sind ziemlich lustig im Alltag. Das ist sehr wichtig für Menschen, die viel Leid erlebt haben. Denn viel Freude trägt auch viel Belastung.

Für Erwachsene ist es aber nicht leicht, bei einer Situation mit einem Kind, das gerade „seine fünf Minuten hat“, nicht die Fassung zu verlieren.
Ja, tatsächlich können Trauma und Krisen ansteckend sein. Ob Erzieher oder Eltern, die Symptome des Traumas übertragen sich auf das Gegenüber. Dafür ist Selbstfürsorge sehr wichtig, um nicht als Erwachsener selbst so zu handeln, wie das traumatisierte Kind es will. Im Familienalltag kann dies bedeuten, dass Erwachsene sich von Kindern provozieren lassen, die mit ihrem Verhalten ihre schlechte Erfahrungen bestätigt lassen haben wollen, mit der Folge, dass auch dem friedliebendsten Erwachsenen auch mal die Hand ausrutscht.
Für uns als geschulte Traumapädagogen ist das „normales Verhalten auf normale Lebensumstände“. Ein Beispiel: Wir arbeiten u.a. mit Kindern, die häusliche Gewalt erlebt haben. Sie haben gelernt, dass Erwachsene Kinder schlagen. Sie suchen so lange nach einer Bestätigung ihrer traumatischen Erfahrung, bis ein Erwachsener sich tatsächlich „vergisst“.

Daher ist es allgemein wichtig, zu verstehen, was sich hinter der traumatischen Erfahrung verbirgt, und für sich als Bezugsperson eine Art Stoppschild gegen ihre Symptome aufzubauen. Vor allem aber begreifen, dass das Kind nicht den Erwachsenen selbst meint, sondern, dass er für eine andere schlechte Erfahrungen auslösende Person steht. Selbstverständlich darf dieses Verhalten nicht toleriert werden. Sowohl wir als auch die Eltern haben einen erzieherischen Auftrag, den wir erfüllen müssen.
Aber mit diesem Hintergrundwissen ausgestattet lassen sich die Gelassenheit und Stärke erlangen, die manchmal in Stresssituationen fehlen. Die gute Nachricht auch für Eltern ist, dass ein liebevoller Umgang vieles bewirken kann: Wenn sie das Verhalten verstehen, können sie etwas daran verändern.

Wissen ist Selbstbemächtigung auch für Kinder: Bekommen sie kindgerecht erklärt, warum sie in bestimmten Situationen anders reagieren, verstehen sie ihr Verhalten, können Grenzen setzen – alles Fähigkeiten, die sie für ihr weiteres Leben gut gebrauchen können.