Ende der TabuisierungLuxemburgs offener Umgang mit psychischen Problemen kann Leben retten

Ende der Tabuisierung / Luxemburgs offener Umgang mit psychischen Problemen kann Leben retten
Dass in Luxemburg keine Statistiken zu psychischen Erkrankungen geführt werden, trägt zur Tabuisierung bei Foto: dpa/Arte/El Deseo/Manolo Pavon

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Niemand würde sich schämen, mit einer Erkältung zum Arzt zu gehen. Warum ist es bei Psychotherapien anders?

Meine schwitzigen Hände hinterlassen glänzende Abdrücke auf der Rückseite meines iPhones. Die Verbindung im Wartezimmer der psychiatrischen Therapeutin ist schlecht, aber ich kann sehen, dass auf meinem Twitter-Account mehrere Mitteilungen eingegangen sind, nachdem ich die Tweets gepostet habe. Es ist der 29. Mai 2019 und ich habe gerade meinen neuesten Artikel geteilt: ein Porträt über eine Borderlinerin, die jahrelang unbemerkt alkohol- und drogenabhängig war. Danach schrieb ich, dass ich gerade selber unterwegs zu einer Therapeutin sei und mich meinen eigenen Problemen stellen würde. Die monatelangen Gespräche mit meiner Protagonistin hätten mich dazu motiviert.

Ich bin aufgeregt. Soziale Medien nutze ich vor allem beruflich. Bei Twitter folgen mir Politikerinnen und Chefredakteure, bei Instagram Musiker. Überhaupt: Tausende fremde Menschen können nun lesen, dass ich gerade ein Problem damit habe, Teile meines Lebens zu meistern. Ist es klug, mein professionelles Portfolio mit einer privaten Notiz zu versehen: Achtung, diese Frau verbringt ganze Tage ungeduscht und verheult im Bett und braucht deswegen Hilfe? Die erste Mitteilung unter meinem Tweet kommt von einer Arbeitskollegin: „Ich bin sehr stolz auf dich.“

Es gibt keine Zahlen dazu, wie viele Menschen in Luxemburg psychisch erkrankt sind. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass 2015 etwa 12 Prozent der europäischen Gesamtbevölkerung schon einmal von psychischen Störungen betroffen waren. Das ist mehr als jede zehnte Person. Am häufigsten sind dabei Depressionen und Angstzustände. Doch nicht jeder begibt sich in Behandlung: weil Symptome unerkannt bleiben, der Zugang zu Therapieplätzen fehlt oder Betroffene sich schlichtweg nicht eingestehen wollen, dass sie Hilfe brauchen. So wie ich lange Zeit.

Klischees und Ängste

Wenn ich heute zurückblicke, habe ich früh erste Symptome meiner heutigen Verhaltensmuster gezeigt. Schon mein Kinderarzt sagte zu meinen Eltern: „Dat do gëtt e Rosent!“, wenn ich mich schreiend und mit aller Kraft gegen die Untersuchungen wehrte. Damals war ich ein Kleinkind. Als Jugendliche hatte ich den Drang, alles zu kontrollieren. Oft kamen meine Wut und mein Kontrolldrang aus der Angst, nicht gut genug zu sein. Und erst jetzt, mit 27, weiß ich, dass dieses Gefühl nicht immer aus dem Fehlverhalten anderer, sondern aus mir selbst kommt. Gelernt habe ich das in der Therapie. Geahnt habe ich es, weil eine Person in meinem Umfeld offen über ihre Persönlichkeitsstörung und therapeutische Hilfe gesprochen hat.

Wahrscheinlich haben auch in Luxemburg mehr Menschen eine psychische Erkrankung als ein Abo im Fitnessstudio. Dennoch liegt in der Gesellschaft noch immer ein Nebel aus Klischees und Ängsten über Problemen der psychischen Gesundheit: Sich professionelle Hilfe holen zu müssen, wird mit Schwäche gleichgesetzt. Dazu die Scham darüber, dass man vermeintlich nicht funktioniert. „Das wichtigste Vorurteil ist sicherlich: Psychisch kranke Menschen sind gefährlich“, sagte Wolfgang Gaebel, der Vorsitzende des deutschen Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit, im SWR-Radio. Andersherum haben manche Betroffene diese Stigmata so weit verinnerlicht, dass sie sich aus Angst vor der Meinung anderer nicht helfen lassen wollen, so Gaebel.

Broschüre des Ministeriums

Dass in Luxemburg keine Statistiken geführt werden, trägt zur Tabuisierung des Themas bei. Erst im Januar stellte das Gesundheitsministerium die Broschüre „Et si j’en parlais à un psy?“ vor, in der die Bevölkerung über Hilfsangebote informiert wird – und mit welchen Kosten Patienten und Patientinnen rechnen müssen. Denn ein Gesetz, nach dem die Krankenkasse für notwendige Therapiesitzungen aufkommen müsste, wurde in Luxemburg noch nicht umgesetzt. Dabei wäre das angesichts der möglichen Folgen unbehandelter Erkrankungen dringend nötig.

Laut WHO sterben Menschen mit psychischen Erkrankungen 20 Jahre früher als der Rest der Bevölkerung. Die Ursachen liegen vor allem in einer falschen oder fehlenden Behandlung der Erkrankten und den daraus resultierenden gesundheitlichen Folgen. Zustande kommt diese Zahl aber auch durch sehr konkrete Ursachen im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen: Suizid, Alkoholmissbrauch, Drogensucht.

Niemand würde sich dafür schämen, wegen Migräneanfällen regelmäßig zur Akupunktur zu gehen. Niemand stellt blöde Fragen, wenn die Handballer-Klassenkameradin einmal in der Woche zur Physiotherapie geht und sich den verletzten Fuß massieren lässt. Würden wir Psychotherapien also auch als normal ansehen, wenn wir damit offener umgehen würden? Experten sagen: ja. Auch deswegen lade ich neben Reisefotos und Videos meiner Katze bei Instagram Texte hoch, in denen ich mit meiner psychischen Gesundheit so schamlos umgehe, als wäre sie nichts mehr als ein umgeknickter Fuß.

Sich verletzbar machen

„Ich kann mich nicht erinnern, wann es mit meiner mentalen Gesundheit zuletzt so schlimm war wie im letzten halben Jahr“, schreibe ich am 10. Oktober zum Welttag für psychische Gesundheit auf meinem Account. Dann erzähle ich, wie ich mir eine Psychiaterin gesucht habe und diese mich anschließend an eine Psychotherapeutin überwiesen hat. „Ich habe vor Freude geweint“, schreibe ich, „weil ich wusste, dass ich die Hilfe bekomme, die ich brauche.“ Es ist nicht leicht, einen Mittelweg zwischen einer umfassenden Erklärung und dem Schutz meines Privatlebens zu finden. Manchmal zögere ich. Aber im November schreibe ich: „Vielleicht sehen Menschen meinen Instagram-Account und denken, ich führe ein perfektes Leben voller Selbstsicherheit.“ Es ist auch eine Verantwortung, diesen Eindruck nicht zu vermitteln.

Meine Mutter hat mich im Zusammenhang mit einem solchen Post kürzlich gefragt, ob ich mein Privatleben wirklich derart offenbaren möchte. Sie wolle nicht, dass mir irgendwann jemand vorwerfen würde, ich sei krank oder könne nicht ernst genommen werden. Doch erstens würde das mehr über die andere Person aussagen als über mich – dass sie ein unempathischer Vollpfosten ist zum Beispiel. Und zweitens habe ich bisher nur positive Reaktionen auf solche Posts bekommen: Menschen, die sich für meine Offenheit bedankt haben. Menschen, die gesagt haben, dass sie sich mit den Texten identifizieren können. Menschen, die einfach nur nett sein wollten. Auch das gibt es.

Positive Reaktionen

Als ich einer Freundin im Sommer bei einer Grillparty von meinen Problemen erzähle, umarmt sie mich: „Du hast so eine starke Ausstrahlung, das hätte ich nicht gedacht.“ Sich verletzbar machen, wenn alle denken, dass es gut läuft – auch das kann anderen Betroffenen helfen. Im Herbst erzählt meine Freundin bei Instagram von ihren schweren Depressionen, dass sie aktiv über Suizid nachgedacht hätte. Als ich ihr viel Kraft wünsche, sagt sie, mein Umgang mit dem Thema hätte sie dazu ermutigt. Auch andere Freunde und Arbeitskolleginnen sprechen mich auf das Thema an oder stellen Fragen: Wie finde ich einen Therapieplatz? Was muss ich bei der Krankenkasse einreichen? Hilft CBD-Öl gegen Stimmungsschwankungen? Was machst du, wenn die Gedanken nicht aufhören zu kreisen?

Viele meiner Freunde und Freundinnen sagen, dass es ihnen guttut, offen über ihre Probleme zu reden. Dennoch denke ich manchmal über den Einwand meiner Mutter nach. Auch jetzt, während ich diesen Text schreibe. In meinem Berliner Umfeld ist es vollkommen normal, dass das Leben nicht nach einem festgelegten Schema verläuft (dieser Einstellung haben wir einer sehr berühmten Flughafen-Baustelle zu verdanken). In Luxemburg werden Abweichungen von der vermeintlichen Norm eher mit hochgezogenen Augenbrauen kommentiert.

In sozialen Medien zu einer teilweise anonymen Masse zu sprechen, ist sicherlich einfacher, als sich auf die place d’Armes zu stellen und einen Vortrag über Heulkrämpfe zu halten. Britische Forschende sagen, der soziale Vergleich bei Twitter, Facebook oder Instagram könne sich negativ auf die Psyche auswirken. Ein wichtiger positiver Effekt sei aber, dass Nutzer und Nutzerinnen sich leichter mit anderen Betroffenen vernetzen, Erfahrungen austauschen und aus ihnen lernen können.

Es ist in Ordnung, mal nicht in Ordnung zu sein

Von psychischen Erkrankungen betroffen sind aber nicht nur internetaffine Teenagerinnen: Auch der Bauer vom Dorf, die Großmutter im Seniorenheim, der Filialleiter aus dem Supermarkt oder die junge Mutter im Wochenbett können psychische Probleme haben. Es reicht nicht, wenn ein kleiner Teil der Gesellschaft von einer offenen Internetkultur profitiert. Wenn wir psychische Gesundheit auch im Alltag ohne Angst diskutieren, haben alle etwas davon. Erst wenn sichtbar ist, wie notwendig eine angemessene gesundheitliche Versorgung in dem Bereich ist, können Politik und Arbeitgebende reagieren und nötige Strukturen schaffen.

Das bedeutet nicht, dass wir ab sofort unsere Patientenakten ausdrucken und die Wände unserer Häuser damit tapezieren müssen. Es ist vollkommen in Ordnung, private Informationen für sich behalten zu wollen. Aber es ist eben auch vollkommen in Ordnung, sich bei der Arbeit krankzumelden, weil man Depressionen hat. Es ist in Ordnung, wenn das Leben mal nicht in Ordnung ist. Man sollte nur wissen, wie man sich dabei helfen lassen kann.

* Rebecca Baden ist 27 Jahre alt und arbeitet in Berlin als freie Journalistin. Davor war sie Redakteurin bei der deutschen Version des VICE-Magazins. Im November 2019 erhielt sie für ihre Arbeit den Journalistenpreis des Weißen Rings.

Eine Liste mit luxemburgischen Beratungsstellen für unterschiedliche Probleme hat die „Prévention Dépression“ auf ihrer Website zusammengestellt:

http://www.prevention-depression.lu/de/hilfsadressen/beratungsstellen/

Dort gibt es auch Telefonnummern für die anonyme Notfallberatung und die Adressen diverser Selbsthilfegruppen: http://www.prevention-depression.lu/de/hilfsadressen/telefonische-beratung/

Ernst Tom
15. Februar 2020 - 14.14

Es ist traurig,dass so wenig in Luxemburg über physiche Krankheiten berichtet wird.Nehmen wir mal Depressionen,Burn out,nur um mal diese zu nennen.Diese Menschen sind nicht verrückt,nein sie sind leider sehr krank,in vielen Fällen durch Mobbing,was leider das nächste Tabu Thema ist.Alles wird zur Zeit in Luxemburg modernisiert,wann gibt es endlich mindestens 1-2 Kurkliniken in Luxemburg.Warum müssen Patienten oft auch noch hunderte Kilometer von Luxemburg weggeschickt werden um Hilfe zu bekommen.Die Anzahl der Bewohner steigt stetig,leider auch diese Krankheiten.Liebes Ministerium,egal von welcher Farbe,bitte baut endlich eine pflegerechte Klinik für Menschen mit solchen Krankheiten.Sie wissen gar nicht,was Sie für gutes tun würden,liebe Grüße,mein Name ist Ernst Tom leide seit 5 Jahren an einer schweren Depression,verbunden mit starken chronischen Kopfschmerzen...Ich bin krank,würde aber wieder gerne etwas gesünder werden,so wie viele andere Personen auch.Danke

Cornichon
14. Februar 2020 - 22.55

Ehrlich gesagt, wenn man sich über psychische Erkrankungen informiert, merkt man schnell, dass jeder welche hat. Allein deswegen sollte man sich dafür nicht schämen. Die einzigen die sich schämen sollten sind diejenigen, die glauben, sie hätten keine. Und wenn jemand meint, er hätte keine, kann er gern zu mir kommen, ich finde schon eine.