Leseverhalten bei Luxemburgs Kindern: Es gibt sie noch, die Bücherwürmer

Leseverhalten bei Luxemburgs Kindern: Es gibt sie noch, die Bücherwürmer

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Seit ihrem Erscheinen vor mehr als zwei Jahrzehnten ist die Harry-Potter-Reihe nicht mehr aus den meisten Kinderzimmern wegzudenken. Die Bestseller von J. K. Rowling haben eine ganze Generation geprägt. Doch auch heute, bei den Kindern der damaligen Erstleser, stehen sie weiterhin hoch im Kurs. Bücher müssen sich jedoch, im Gegensatz zu früher, viel stärker gegen die digitale Welt behaupten. Da stellt sich die Frage, ob sie das schaffen. Das Tageblatt hat sich mit einer erfahrenen Buchhändlerin, einer Lehrerin und den Verantwortlichen der Regionalbibliothek in Düdelingen darüber unterhalten.

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Bücher stehen heutzutage in stetiger Konkurrenz mit dem Digitalen: Gegen diese bunten, lauten und bewegten Bilder kommen die starren, mit Buchstaben gefüllten Seiten nur schwer an. Allerdings tauchen laut Lehrerin MariePaule Wilhelm und den Verantwortlichen der Regionalbibliothek in Düdelingen, Friederike Migneco und Isabelle Bolliri, immer noch viele Kinder gerne in die Welt der Bücher ein.

„Es gibt Kinder, die die sieben Harry-Potter-Bände gelesen haben. Und dann gibt es diejenigen, die sich hauptsächlich Filme anschauen und Bücher mit vielen Bildern lesen“, erzählt Marie-Paule Wilhelm, die neben ihrem Job als Lehrerin auch Lesungen für Schulkinder in Zusammenarbeit mit der Bibliothek organisiert. „Die Kinder müssen zu den Büchern herangeführt werden.“ Es reiche nicht, einen Schrank mit den tollsten Schmökern in eine Ecke zu stellen. Das sei nicht lebendig genug.

In der Bibliothek wurden ähnliche Erfahrungen gemacht. „Es wird oft behauptet, dass Kinder nicht mehr lesen, doch wir sehen das Publikum, das zu uns kommt“, sagt Isabelle Bolliri. Viele Kinder wüssten zu Beginn nicht, was eine Bibliothek sei. Deswegen sei es gut, wenn sie dort mit der Schule an Lesungen teilnähmen.

Ein Weg, um Kinder für Bücher zu begeistern, sei sicherlich das Vorlesen. Auch Aktivitäten rund um das Lesen seien wichtig. „Es soll zu einer ganzheitlichen Erfahrung werden, die später an das Schreiben gekoppelt wird“, erzählt Marie-Paule Wilhelm. Dazu gehören Begegnungen mit den Autoren, Schreibateliers und Erklärungen über die Entstehung von Büchern. Solche Ateliers werden auch regelmäßig in der Bibliothek angeboten. Diese verschiedenen Herangehensweisen seien auch deswegen so wichtig, weil Kinder heute früh mit digitalen Kanälen in Berührung kämen, die viel freie Zeit in Anspruch nähmen.

Die Klassiker bleiben in den Regalen

Auf den hohen Stellenwert, den Eltern bei der Förderung der Lesekultur haben, geht Friederike Migneco ein: „Die Kinder, die das von zu Hause aus mitbekommen haben, gehen später auch in die Bibliothek.“ Wenn das Lesen von klein auf gefördert werde, dann falle es den Kindern später in der Grundschule und auch im Lyzeum leichter. Doch da seien auch die Schule und die Bibliothek gefragt.

Eine Erfahrung, die Marie-Paule Wilhelm in den letzten Jahren gemacht hat, ist, dass viele Kinder nicht mehr zuhören können: „Sie sind es gar nicht mehr gewohnt, sich Geschichten anzuhören. Das zieht sich bis in die vierte Klasse.“

In ihren ersten Jahren als Lehrerin waren zu einem großen Teil die Eltern dafür zuständig, die Kinder an Bücher heranzuführen. Doch hier sei es mit der Zeit zu einer Verlagerung gekommen. Die Zuhör-Kultur muss in ihren Augen verstärkt gepflegt werden – noch vor dem Lesen an sich. „Kinder müssen hören, wie eine Geschichte funktioniert, und sich darauf einlassen können.“ Es gebe natürlich immer noch Familien, die dies vorbildlich machten. Dies sei der Idealfall. Daneben gebe es aber auch Eltern, die gar kein Buch zu Hause hätten. Dadurch käme den Schulen dann eine weitere Rolle zu.

Klassiker wie „Michel in der Suppenschüssel“ oder die bekannten Märchen kommen heute nicht mehr so gut an. Sie eignen sich eher für das Vorlesen. Die einzigen Ausnahmen: Wenn sie vor Kurzem erst verfilmt oder mit einem neuen, ansprechenderen Cover wieder veröffentlicht wurden. „Es gab schon Bücher, die wir nicht verwenden konnten und stattdessen nochmal, nur in neuer Auflage und mit neuem Cover, kaufen mussten“, verrät Friederike Migneco. Mittlerweile werden Klassiker als Graphic Novel, also zu einem Comic im Buchformat, umgeschrieben. Die Klassiker-Abteilung in der Bibliothek ist gut gefüllt, doch laut den Verantwortlichen nicht wirklich gefragt.

Von Prinzessinnen und Abenteurern

Die Feststellung, dass Mädchen eher zu Prinzessinnen- und Jungen zu Abenteurergeschichten greifen, haben die drei auch gemacht. Doch auch der Inhalt sei dementsprechend angelegt, überlegt Friederike Migneco. Die Bücher seien nunmal zielgruppenorientiert gestaltet. Es werde heute sehr viel Arbeit in ihr Aussehen gesteckt, damit sie unter den zahlreichen anderen hervorstechen. Wichtig sei heutzutage, dass die Bücher die Blicke auf sich ziehen. Am häufigsten ausgeliehen werden die mit den ansprechendsten Buchdeckeln.

Auf den Bestsellerlisten, die die Bibliothek erhält, stehen viele Werke, die sich nach den üblichen Stereotypen richten: Pony, Rosa, Glitzer für die Mädchen – Fußball und Action für die Jungen. Daneben gebe es jedoch auch andere. „Viele Mädchenbücher wollen zeigen, dass Frauen etwas draufhaben“, bemerkt Isabelle Bolliri. Nur würden diese dann wahrscheinlich von Mädchen und nicht von Jungen ausgeliehen werden.

In der Schule sei es wichtig, Klassenlektüre auszuwählen, in der dies vermieden wird. „Gute Geschichten sind nicht für ein bestimmtes Publikum geschrieben“, findet Wilhelm. „Tom Sawyer“ von Mark Twain sei bei beiden Geschlechtern beliebt. „Wenn dann noch das Cover passt, dann macht es nichts aus, dass die Geschichte fast 150 Jahre alt ist.“

Analphabetismus

Auch heutzutage gibt es immer noch viele Menschen, die im erwachsenen Alter weder lesen noch schreiben können. Genaue Zahlen für Luxemburg existieren nicht. Doch es wird angenommen, dass in den meisten europäischen Ländern um die 7 Prozent der Bevölkerung Analphabeten sind, also weder lesen noch schreiben können. Viele schämen sich zu sehr, um darüber zu sprechen. Erwachsene entwickeln oft eigene Techniken, um dieses Defizit zu kompensieren.


Feen und Ponys oder Abenteuer und Krimis

Anne Diderich, Besitzerin der Librairie Diderich in Esch, ist Expertin für Bücher und weiß, welche Veröffentlichungen über die Ladentheke gehen. Das Tageblatt hat sich mit ihr über Klischees und darüber, wer eigentlich für einen Bestseller verantwortlich ist, unterhalten.

Tageblatt: Lesen Kinder überhaupt noch?
Anne Diderich: Ja, erfreulicherweise lesen sie noch.

In jedem Alter?
Wenn Kinder von klein auf mit Büchern in Kontakt kommen, dann entwickeln sie oft eine Liebe dazu. Im ersten Schuljahr öffnet sich diese riesengroße Welt der Buchstaben. Die Lesebegeisterung ist groß. Das hält bis zum fünften Schuljahr an, dann nimmt es etwas ab. Im Lyzeum, mit dem Beginn der Pubertät, wird es weniger. Doch die Kinder, die mit dem Herzen dabei sind, lesen auch in diesem Alter weiter.

Was sind die größten Trends?
Darüber habe ich lange nachgedacht. Doch eigentlich kann man das so nicht sagen. Die Tendenz ist seit Jahren dieselbe: Wenn Kinder mit dem Lesen anfangen, dann greifen Mädchen zu Prinzessinnen- und Feenbüchern sowie zu Pferdegeschichten. Jungen hingegen mögen Abenteuer und Krimis. Es ist vielleicht klischeehaft, doch es ist nun mal so. Ausnahmen gibt es natürlich immer.

Später gehen insbesondere Jungen in die Fantasy-Richtung und tauchen in diese Welt ein. Zu Beginn des „Lycée“ landen Mädchen bei den Liebesromanen und Jungen bleiben weiterhin im Fantasy- und Science-Fiction-Bereich. Bei manchen Serien warten Kinder darauf, dass ein neues Buch erscheint, zum Beispiel bei der Reihe „Gregs Tagebuch“. Das lesen beide Geschlechter und ist und bleibt ein Renner.

Wird Harry Potter noch gelesen?
Ja, jetzt wieder mehr, da die Reihe ihr Jubiläum feierte. Dadurch ist sie wieder beliebter geworden.

Wie viele Kinderbücher erscheinen pro Jahr?
Schon sehr viele. Und es kommen immer neue Verlage hinzu. Die Sparte ist einfach sehr groß. Zudem ist unklar, bis wann ein Buch als Kinderbuch angesehen wird.

Wie wählen Sie die Bücher aus, die Sie in Ihre Regale stellen?
Das geht aus der Erfahrung heraus. Ich arbeite hier ja schon seit 28 Jahren und weiß, welche Bücher gefragt sind. Und ich sehe, was gut bei den Kindern und Eltern ankommt. Die Empfehlungen von Vertretern sind auch wichtig. Doch schlussendlich wird es ein Bestseller durch den Buchhändler, der beraten kann und das Werk in seinem Laden anbietet.

Wie schätzen Sie interaktive Bücher und Digitalstifte ein, bei denen es zu den Büchern auch Spiele und Wissenswertes dazu gibt? Wird dann nicht die Vorleserolle der Eltern übernommen?
Bei den interaktiven Büchern können Kindern nicht nur eigenständig zuhören, sondern auch spielen. Es kommt immer darauf an, was sie zu Hause gezeigt bekommen.
Das Digitale ist so oder so nicht mehr aus unserer Gesellschaft wegzudenken. Trotzdem finde ich es extrem wichtig, dass Kinder zuerst die Geschichten vorgelesen bekommen, sei es wegen des Zusammenseins mit demjenigen, der sie ihnen vorliest, oder weil sie dabei lernen, sich auszudrücken. Das ist doch sehr wichtig, denn wenn sie sich nur den Film anschauen, bleiben andere Sachen hängen.

Welche Erfahrungen dazu haben Sie selbst gemacht?
Wenn Klassen hier sind, dann sehe ich, welche Kinder vorher schon einmal in einer Buchhandlung waren und welche noch nie. Manche Kinder schauen sich keine Bücher an, weil sie diese Welt nicht kennengelernt haben und sich nicht darin hineinversetzen kennen. Kommen sie dann hierher, sind sie ganz begeistert.

In welcher Sprache wird am meisten gelesen?
Die Hauptsprache ist Deutsch. Auch wenn es hier im Süden und in Esch viele Nicht-Luxemburger gibt und obwohl wir uns in der Nähe der Grenze befinden. Doch mittlerweile wird, zum Teil dank der „International School“, vermehrt Französisch und mittlerweile auch Englisch verlangt.

Wie sieht es mit Büchern auf Luxemburgisch aus?
Die werden auch viel gekauft. Die Auswahl ist mittlerweile enorm, sei es bei neuen Büchern oder bei Übersetzungen. Noch nie hat es so viele Kinderbücher auf Luxemburgisch gegeben wie zurzeit.

Was erwarten Sie vom „Kannerbicherdag“?
Letztes Jahr waren wir ja auch schon dabei. Ich erwarte mir, dass sich viele Kinder mit viel Freude die Bücher anschauen. An dem Tag wird viel geboten und sie können und sollen davon profitieren. Es lohnt sich immer. Wir wollen ja präsentieren, was wir haben.

Wie groß ist die Online-Konkurrenz?
Es ist schade, wenn Lehrerin/innen dazu raten, die Bücher online zu bestellen, statt eine Buchhandlung zu empfehlen. Oft machen Lehrkräfte diesen Gedankengang nicht mehr.


Die Erfolgsserie „Gregs Tagebuch“

„Gregs Tagebuch“ ist eine Kinderbuchreihe des Amerikaners Jeff Kinney. Der Autor selbst bezeichnet seine Bücher als Comic-Romane. Protagonist Greg hat gerade sein erstes Jahr an der Highschool begonnen, als seine Mutter ihm ein Tagebuch schenkt. Er fängt an, Erlebnisse aus seinem alltäglichen Leben schriftlich festzuhalten. Mittlerweile gibt es 13 Bände.

Serien sind für Lehrerin Marie-Paule Wilhelm etwas ganz Interessantes. Wenn Kinder einmal angebissen hätten, dann sei die Motivation sehr groß, um noch weiterzulesen. Weitere bei Kindern beliebte Serien sind „Warrior Cats“, „Dog Diaries“ und „Mein Lotta-Leben“.


Lesen Sie auch den Kommentar zum Artikel von Anne Ludwig.

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