Läuft alles schief, dann lauf geradeaus: Das erste Mal gegen 21 Kilometer

Läuft alles schief, dann lauf geradeaus: Das erste Mal gegen 21 Kilometer

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Die Rolle meiner Füße auf dem ersten Halbmarathon meines Lebens ist schnell erklärt: Einen Schritt nach dem anderen. Weiter, immer weiter. Das Ding ist eine Kopfsache, wie es so schön heißt. Was dagegen meine Augen auf diesen 21 Kilometern sahen (wenn auch unscharf), war umso beeindruckender – und entschädigt für den langen Lauf durch den Backofen namens Luxemburg-Stadt.

Es war gerade 19.01 Uhr, als ich den Sichtkontakt – trotz teurer Weitsichtgläser – zu der kenianischen Truppe bereits verloren hatte. Es blieb mir, wie zu erwarten, also nichts anders übrig, als mich auf schicksalshaften 21 Kilometern auf meinen tatsächlichen „Tempo-Hasen“ und seinen Durchblick zu verlassen. Dieser, um eine Halbmarathonerfahrung reicher als ich, hatte seinen Standpunkt im Vorfeld mehrfach klargemacht: Er wollte in diesen Zeilen nicht namentlich erwähnt werden. Es sei also nur so viel verraten: „Hase“ holt unsere gemeinsamen Kinder täglich von der Schule ab …

Ohne „Hase“ unterwegs

Das gemeinsame Training beschränkte sich in den letzten Monaten, aufgrund der bereits erwähnten Nachkommen, auf ein striktes Minimum. Fakt ist: „Hase“ hat die Hitzeschlacht von Luxemburg überlebt. Wahrscheinlich auch, weil ich ihn während der ersten 18 Kilometer überhaupt nicht gesehen hatte – und danach ohnehin kaum noch in der Lage war, ihn deswegen anzubrüllen. Dazu später mehr. Nach dem Motto: „Getrennt in den Startblöcken, vereint in der Qual“ war der Plan, dass ich den „Hasen“ kurz nach der ersten Kurve – an der übrigens FLF-Präsident Paul Philipp als Zuschauer vorbeirauschte – wiedersehen würde. Zugegeben, diese organisatorische Leichtsinnigkeit war zum Scheitern verurteilt.

Stattdessen lief es aus meiner Sicht auf den ersten fünf Kilometern wie am Schnürchen. Die anvisierte Durchschnittsgeschwindigkeit auf der Uhr und der Schatten unter den Bäumen des Kirchbergs steigerten die Zuversicht. Bis zum ersten „Ravi“. Den habe ich verpasst. Für einen Augenblick zweifelte ich, ob ich mich nicht trotzdem durch die Menschenmasse durchdrücken sollte, die links und rechts an mir vorbeidrängelte. Augenrollend ärgerte ich mich über den inexistenten „Hasen“, als ich das Meer an zerquetschten Bechern überquerte.

Trinken, trinken und noch mehr trinken

Langsam laufen, viel Wasser trinken, sein eigenes Tempo finden: Diese gut gemeinten Ratschläge meiner Außenwelt, die aus der Frau mit Herz und deren Einstieg in die wunderbare Welt des Ausdauersports stammen könnten, wollte ich mir trotz deren massiven Ausgelaugtseins zu Herzen nehmen. Mit diesen Tipps für ein besseres (Über-)Leben auf dem Asphalt der hügeligen Hauptstadt hat es sich allerdings wie mit einer Tüte Chips: Je länger der Tag, desto weniger bleibt davon übrig.

Bei den hohen Temperaturen überwand ich meine abgrundtiefe Abneigung gegenüber Dixi-Klos schon vor dem Start, denn zumindest die ständige Hydrierung war zur Mittagszeit ein Muss. Hätte jemand eine Kamera hingehalten, als ich mir auf dem Glacis unbeholfen die Hälfte des Wasserbechers in die Brille kippte, wäre wohl bereits gestern eines dieser lustigen GIFs mit dem Titel „Und wie läuft deine Woche so?“ im Internet aufgetaucht …

Temperaturen killen Tempo

Das kleinere Übel, bedenkt man, dass man sich während zwei Stunden nur auf den eigenen Rhythmus konzentrieren soll. Wer sich schon einmal in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Tokio umgesehen hat, kann sich daher vorstellen, wie eng es in einem Starterfeld eines Marathons zugehen kann. Vor allem aber die Sache mit dem Tempohalten war am Samstag nicht von Erfolg gekrönt. Denn der Einbruch kam nach der Hälfte des Parcours.

Mein größter Feind waren die schwülen Abendtemperaturen. Denen zollte ich Tribut – leider viel mehr als erhofft. Spätestens als ich mich dabei erwischte, in einem Tempo von durchschnittlich sieben Minuten pro Kilometer über den Knuedler zu „laufen“, brachte alle Rechnerei nichts mehr. Die Zielzeit von 2:15 Stunden, auf die ich mich monatelang vorbereitet hatte, verpasste ich um Längen. Enttäuschung und Ernüchterung machten sich breit.

Den „Hasen“ wiederfinden

Den verlorenen Sichtkontakt zu den Kenianern fand ich übrigens bei Kilometer 17 wieder, als Komen und Co. leichtfüßig vorbeiflogen. Und dies, obschon meine Brille durch die Bewässerung der vielen Gartenschläuche und Wasserbecher mehr Behinderung als Sehhilfe darstellte. Wie aus dem Nichts tauchte ausgerechnet dort „Hase“ wieder vor meinen Augen auf, der sich nach einer kurzen Hasstirade mit mir ins Ziel schleppte.

Auf der anderen Seite habe ich bei diesem Dauerlauf eine wunderbare Erfahrung gemacht, die unvergesslich bleibt. Ein ausgelutschtes Sprichwort, aber tatsächlich zutreffend. Denn wildfremde Menschen, zu Tausenden, die niemand darum gebeten hatte, applaudierten stundenlang. Sie riefen meinen Namen, beteuerten lauthals, dass ich das „toll“ machen würde – obschon es wohl gar nicht mehr danach aussah, als ich mich auf dem Rückweg zur Luxexpo The Box hinaufquälte.

Kein Zuckerschlecken

Nachdem ich bereits lange vorher die ersten Hände im Stadtkern abgeklatscht hatte, wurde mir klar, dass diese Fremden nicht wissen konnten, dass ich 90 Minuten zuvor ein Dixi-Klo benutzen musste. Es war ihnen egal, sie streckten ihre Papp-Handschuhe und Hände als Motivationschübe hinaus zu den Läufern. Ohne Unterbrechung. Nicht nur für die Profis, sondern eben auch für „Hasen“ und Ehefrauen, Debütanten und von der Hitze gezeichneten Hobbysportler.

Mein Samstagabend war kein Zuckerschlecken. Sportlich gesehen tendierte es sogar in Richtung Enttäuschung. Letzten Endes baumelte trotzdem eine allererste Halbmarathon-Medaille um meinen Hals. Und mit ihr die Erkenntnis, dass ich meinen persönlichen Streckenrekord nächstes Jahr wohl problemlos korrigieren werde.